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Ein Postillon des Sinns

Hat die Freude schönere Töne als der Schmerz? Zum 95. Geburtstag des griechischen Jahrhundertkünstlers Mikis Theodorakis

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Mensch hat ein grundsätzliches Problem: Er ist Neuling in seinem Zeitalter. Daraus erwachsen uns zwei Gaben, der Welt zu begegnen: Erstaunen und Erschrecken. Leben als Verhaltensspannung zwischen Offenheit und Vorsicht - Neugier treibt vor, Angst hält zurück. Hoffnung aber, diese schöne Fremde, hält nichts zurück: Hinter der Ohnmacht dünnster Stelle reibt sie am Stoff, der die Fenster verdunkelt.

»In einer einfachen Blüte, deren Blätter sich öffnen, darf man zu Recht hoffen, dass die Poesie - wie Mohn zwischen zwei Feuersteinfelsen - immer wieder erblühen wird«, schrieb der Nobelpreisträger Odysseas Elytis - und ein anderer, das Noble in die Welt tragender Grieche, Mikis Theodorakis, hat ihn 1960 grandios vertont. Des Dichters »Axion Esti - Gepriesen sei«: Musik wie eine Mutwelle des Widerstandes, des erhobenen Hauptes mit den gesenkten Blicken der Trauer. Für nichts weniger entsteht Poesie als für eine neue Weltverfassung. Sie verteidigt, was es nie gab. Die Sinfonien, die Lieder, die massiven Gesänge - Theodorakis feiert den wahren Reichtum, den kein Besitz erringt: nämlich das, was uns immer wieder zum wahren Leben fehlt. Empfindlichkeit. Griechenlands Jahrhundertmusiker ist ein Postillon des Sinns. Er setzt sozusagen das Gold der alten Instrumente an den Mund und gibt Laut. Dass alle Fasern ins Schwingen kommen. Du bist, wenn du diese Musik hörst, irgendwie gefeit gegen das eigene Verhängnis. Theodorakis gehört nicht zu denen, die nur immer eine Tendenz in sich haben. Er gehört nicht zu denen, die Agitation anbauen, als wäre es Wein.

Immer die gleiche Wucht, immer die gleiche Eisblumenzerbrechlichkeit im antikisch Beschworenen, aber doch jedes Werk um tausend Farben anders. Herrliche Unverschämtheit, sich nicht fremd zu fühlen im Leben. In Begleitung der richtigen Musik kriechen wir zu allen Altären, vor denen wir Dank sagen können. Sagen und singen. Zorn ist auch Dank - dafür, noch berührbar zu sein. Im Untergrund der mediterranen Töne die Wiener Klassik, der deutsche Barock. Durch chorische Blöcke hindurch springen Kinderstimmen ins Freie. Von Schütz und Dessau und Henze tönt Verwandtschaft herüber, ja Bruderschaft.

Er hat sich Pablos Nerudas »Canto General« in einem erschütternd zornigen Oratorium anverwandelt, er hat für den Dresdner Kreuzchor die »Liturgie Nr. 2« geschrieben, schuf die Mauthausen-Ballade, das »Lied vom toten Bruder«, auch Jannis Ritsos’ »Epitaphios« brachten ihm Weltruhm, viele Lieder des Freundes vertonte er. Der Volkstanz bittet die Archaik auf die Dielen, der Gassenhauer holt sich bei den Dichtern den tragenden Atem. Lieder, das waren seine Retter, seine Therapie nach dem Schock: jenem Erlebnis mit der ersten Sinfonie, in London, der Beifall der Geschniegelten wie eine Ohrfeige ins Herz. Das war nicht seine Welt, seine Welt war der Riss, der sie in Oben und Unten trennt - das Lied wie ein Gang in die Niederungen, wo der Zorn trommelt, das Trotz-alledem! aus dem ersten Loch pfeift. Und wo Musik die Harmonie aufruft gegen das Chaos, eine Harmonie, »die davon träumt, dass die Steine wieder eine Seele haben dürfen, also endlich von der Last befreit sind, geworfen zu werden«. Poesie sei »die Einheitswährung« der Menschheit.

Der Gigant ist inzwischen gebrechlich. Doch im Bewusstsein des Abschieds behauptet er ein tapferes Lebendigsein. Vergänglichkeit, so Theodorakis, sei etwas Heiliges: Denn sie erst schuf den wunderbaren Glauben, wir könnten sie überwinden. Der Künstler verweist auf das Erste Testament, das »radikal diesseits« sei. Radikal diesseits. Das war er ausdauernd. Als Kämpfer gegen die Nazis. Als Partisan der Kommunisten im Bürgerkrieg. Als Verbannter und Gefolterter in der Obristendiktatur. Eine der ersten Maßnahmen der Junta war der Befehl Nr. 13 - das Verbot der Lieder und Texte von Theodorakis. Er kämpfte, er floh, er versteckte sich. Man hat ihm ein Bein gebrochen, auf der KZ-Insel Markonissos warf man ihn in eine Sickergrube, man simulierte eine Erschießung. Der Feinstsinnnige blieb ein harter Kerl. Kinder aus der DDR schickten ihm Solidaritätsgrüße, er tapezierte eine Zellenwand damit.

Und immer blieb er unverblümt. »Eine Gitarre im Futteral klingt nicht!« Also machte er den Mund auf. Nie interessierte ihn die Zensurgebung der Kommentarindustrie. Theodorakis ist seit jeher ein freier Mensch, der sich Gesinnungskontrollen konsequent verweigert.

Er ging als Linker in eine konservative Regierung. Auf dem Syntagmaplatz in Athen, im Februar 2012, streckte ihn eine polizeiliche Tränengasgranate nieder. Es war eine Demonstration gegen die Spardiktate. Er saß schon im Rollstuhl. So leitete der griechische Staat die weitere körperliche Zerrüttung seines weltbekanntesten Künstlers ein. Der beantwortete die Lädierung seiner Lunge mit einem trotzigen Sinn für Farben. »Im Licht der Abendsonne wird der Zigarrenrauch märchenhaft blau.« Sagte der Mann, dem das Rauchen streng verboten war, der aber doch diese kräftigen Zigarren besaß, die ihm Fidel Castro persönlich geschenkt hatte.

Die großen Werke sind allesamt in der DDR erschienen und aufgeführt, oft vom Komponisten dirigiert, von Maria Farantouri gesungen. Sie war sechzehn Jahre alt, als er sie entdeckte, sie wurde »die größte Stimme Griechenlands«. Er nannte sie »meine Priesterin«. Die dunkle, ziehende Stimme seiner Philosophie: Wenn dem Menschen nichts weh tut, gibt es ihn nicht - hat denn die Freude schönere Töne als der Schmerz?

Mikis Theodorakis, 1925 auf der Insel Chios geboren. Kretischer Dickschädel. Schrieb die Filmmusik zu »Alexis Sorbas«, »Z« und »Serpico«. Die Szene seiner Kindheit: ein weißes Schiff, das oft an seiner Insel vorüberzog. Im blauen Meer. »Unfassbare Schönheit.« Sehnsucht ist da, bevor sie überhaupt ein Ziel hat. Ein Bild, lebenslang verwandelt in bleibende Musik. Heute wird Mikis Theodorakis 95 Jahre alt.

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