- Politik
- Jeanine Áñez
Boliviens Rechtsregierung versagt
Wahlen werden verschoben, Schulunterricht eingestellt - soziale Bewegungen sondieren Generalstreik
Steht in Bolivien der unbefristete Generalstreik bevor? Auf einer der größten Kundgebungen in El Alto kündigte der Vorsitzende des zentralen Gewerkschaftsverbandes COB, Juan Carlos Huarachi, ab dem 3. August einen unbefristeten Generalstreik an. Die Campesino-Gewerkschaft CSUTCB forderte die Blockade von Überlandstraßen. Neben der erneuten Verschiebung des Wahltermins auf den 18. Oktober empören sich die sozialen Organisationen auch über die Drohung, Luis Arce, den Präsidentschaftskandidaten der Bewegung zum Sozialismus (MAS), von den Wahlen auszuschließen. Arce liegt bei den Umfragen klar vorne, die De-facto-Präsidentin Jeanine Áñez weit zurück an dritter Stelle.
Der Rechtsregierung weht ein Wind der Proteste entgegen. Am 28. Juli demonstrierten mehrere Zehntausende im ganzen Land gegen die Regierung und gegen die erneute Verschiebung des Wahltermins durch den Wahlrat. Schon seit Wochen protestieren Lehrer*innen auf dem Lande, weil Onlineunterricht mangels Internet in vielen Regionen nicht möglich ist. Sie fordern allerdings nicht die Suspendierung des Unterrichts, sondern die Wiederaufnahme von Präsenzunterricht unter der Berücksichtigung hygienischer Maßnahmen. Seit Wochen kommt es zu keiner Annäherung mit dem Bildungsminister Víctor Cárdenas, der inzwischen an Corona erkrankt ist.
Als wäre die Lage nicht schon schwierig genug, verkündete der Präsidentschaftsamtsminister Yerko Nuñez am Sonntag: »Präsidentin Jeanine Áñez hat beschlossen, alle Bildungsaktivitäten einzustellen«, das Schuljahr sei beendet. Auf Nachfragen ratloser Journalist*innen meinte er, »ja, das gilt auch für den virtuellen Unterricht.« Man sei nicht in der Lage, die Bildungsaktivitäten fortzusetzen, es gebe Streikandrohungen von Lehrer*innen auf dem Lande, fuhr er etwas hilflos dreinschauend fort.
So hilflos wie in der Bildungspolitik agiert die Regierung auch in der Coronakrise. Verzweifelt hatte ein Netzwerk von Unterstützer*innen noch versucht, den lebenswichtigen Sauerstoff zu besorgen. Aber aufgrund der Coronakrise waren die lebensnotwendigen Sauerstoffflaschen überall ausverkauft. Und so hatte Verónica Jimenez, die an einer chronischen Lungenkrankheit litt, nicht mehr genug Sauerstoff zum Atmen. Jimenez ist ein Opfer, das in keiner Statistik zur Covid-19 Pandemie geführt wird. Denn sie ist weder mit, noch an dem Virus gestorben, wohl aber wegen der Coronakrise. Die Aktivisten*innen konnten schließlich nur noch Geld für die Beerdigung sammeln.
»Särge sind nur noch zu horrenden Preisen zu bekommen«, meint Maria González, eine Sozialarbeiterin aus El Alto. Nach dem Gesundheitssystem kollabiert gerade das Bestattungswesen im Land. Auch an den Schulen, an denen González arbeitet, fordert die Pandemie bereits ihre Opfer. »Bei einer der Familien ist der Vater gestorben«, meint die resolute Frau. »Die Mutter ist nun alleine mit den drei Kindern, der Vater war der Einzige mit einem Einkommen in der Familie.« Hilfe bekommt die Familie nun aus der Nachbarschaft. »Alle haben zusammengelegt, aber selbst die Finanzierung der Beerdigung wird aufgrund der gestiegenen Kosten zu einer Herausforderung«, meint González mit zugeschnürtem Hals.
Viele starren mit Ungläubigkeit auf die steigenden Fallzahlen im Land. Zu den Zuschauer*innen zählen auch Teile der Übergangsregierung. Diese hat nach der Aufhebung des strikten Lockdowns die Verantwortung an die Departamentos und die Städte abgegeben und sich weitestgehend aus dem Krisenmanagement zurückgezogen. Sporadisch werden zwar noch die Ankunft neuer Testkits oder Beatmungsgeräte verkündet, das sorgt jedoch in sozialen Medien inzwischen nur noch für Spott. Kaum jemand nimmt die Regierung bei ihren Aktivitäten im Zusammenhang mit der Pandemie noch ernst.
»Es geht nun nur noch darum, den eigenen Hintern zu retten«, meint Christian Gutiérrez. Der Mittdreißiger verkauft auf eigene Faust Testkits, die er für 20 Euro anbietet, »Im Krankenhaus bezahlst du mindestens 100 Euro.« Wie zuverlässig seine Tests sind, weiß er selber nicht so genau, das Geschäft läuft aber gut. »Viele testen sich lieber selber, als ins Krankenhaus zu gehen«, meint er. Denn dort seien sowohl die Ansteckungs- als auch die Kostenrisiken unkalkulierbar. Also versuchen sie sich irgendwie mit Eigenmedikation zu retten, mit Chlordioxid, Entwurmungsmittel, Vitamin C. In den sozialen Medien zirkuliert eine Vielzahl von zum Teil fragwürdigen Hausrezepten.
Zwar haben die sozialen Bewegungen, die traditionell der MAS nahe stehen, mit ihren Mobilisierungen die Oberhand gewonnen, ob es aber wirklich zu Streiks und Blockaden kommt, wird sich erst im Verlauf der Woche herausstellen. Inzwischen hat Andrónico Gutiérrez, Vizepräsident der Kokaproduzenten*innen des Chapare und rechte Hand von Evo Morales, durchblicken lassen, eventuell mit der erneuten Wahlverschiebung leben zu können. Denn auch für die sozialen Bewegungen birgt eine eskalierende Konfrontation mit der Regierung, vor dem Hintergrund des im August oder September erwarteten Höhepunkts der Pandemie, Risiken.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!