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Ohne ein Gramm Schmalz zu viel

Von Marlen Haushofer sind emanzipatorische Märchen erschienen

  • Robert Best
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Doppeljubiläum: 100. Geburtstag und 50. Todestag von Marlen Haushofer. Aus diesem Anlass sind von der österreichischen Schriftstellerin drei nachgelassene, undatierte Märchen erschienen - eine Trilogie, ja ein »Triptychon«, so Herausgeber Stefan Bundi. Eine posthume, periphere Erstveröffentlichung erlebten sie 1972. Schon damals müssen sie wie aus der Zeit gefallen gewirkt haben.

Haushofers »Waldmädchen« etwa »hatte braune Locken und grüne Augen und war so rank gewachsen wie eine junge Birke«. Vater und Mutter hat es nicht, doch einen Räuber zum Freund - als einzige Verbindung zur Außenwelt. Bis sich ein junger König bei der Jagd verirrt. Im Nu wird das Mädchen Königin. Es »wusste nicht, wie ihm geschah«.

Auch Haushofers bekanntestes Buch handelt von Ohnmacht, die aber in Handlungsfähigkeit umschlagen kann: »Die Wand« von 1963 ist ein oft in abwertender Absicht als »Frauenbuch« bezeichneter Roman mit Existenzialismus-Schlagseite, Horror- und Thriller-Elementen. Unsichtbar und undurchdringlich umschließt eine kilometerlange Ringmauer mitten im Wald urplötzlich eine Urlauberin und ihren Hund. In diesem idyllisch höllischen Zwischenreich werden neue Kräfte frei.

Haushofer, 18-jährig bei Deutschlands Annektion von Österreich, gehörte zu denen, die Nationalsozialismus und Krieg mehr durch- als überlebten. 1939 berichtet sie einer Freundin aus dem »Reichsarbeitsdienst«, fern von Schule und Familie: »Die Arbeit ist sehr schwer, anfangs glaubte ich, ich könnte es nicht machen, aber jetzt geht es schon ganz gut. Ich konnte das Essen einfach nicht vertragen, 3 mal tägl. Kartoffel, dann immer diese Grützen, Puddings und Klösse, einfach schrecklich. Aber jetzt schmeckt mir das Essen schon sehr gut, ich kann mir eben nichts anderes mehr vorstellen.«

Haushofers, sagen wir:, Hausthema ist so österreichisch wie klaustrophobisch aufgeladen, dass »Austro-Klaustro« ein hierfür passender literaturwissenschaftlicher Begriff wäre: Ein Lebenskreis wird unversehens gegen einen (beklemmenden) anderen getauscht. Man soll sich dem fügen oder muss handeln. Die Option »Handeln« ist in Haushofers Literatur präsent und macht sie anschlussfähig an emanzipatorische Diskurse.

Das Märchen vom »Waldmädchen« ist nicht zuletzt eine dialektische Fabel über Bezwingung und Inkommensurabilität. Die Natur lässt sich nicht beherrschen, vom »Waldmädchen« kommt unwillkürlicher Widerstand, der Deus-ex-Machina-Schluss ist kein »Märchenende«. Alle arrangieren sich irgendwie mit der Gesamtsituation: Es ist okay.

Dazu passt, dass sich der junge König und der alte Räuber irgendwie zusammenraufen müssen. Es geht noch nicht Richtung Romanze, aber dem jüngst verstorbenen Gabi Delgado von der Musikgruppe Deutsch-Amerikanische Freundschaft (»Der Räuber und der Prinz«) hätte es gefallen.

Haushofer fühlt sich wohl in der Gattung. Sie schreibt makellosen, geschmeidigen Märchenstil ohne ein Gramm Schmalz zu viel und ist sich auch für Grimm-Epigonentum nicht zu schade. Da singt etwa ein blauer Vogel »bis die Sonne sank, als wollte ihm vor Glück die kleine Kehle zerspringen«. Zugleich gewinnt sie dem Genre Witz ab, wenn etwa der weiseste Arzt des Hofes so alt war, »daß drei Pagen seinen weißen Bart tragen mußten« (jawohl, alte Rechtschreibung).

Blinde Flecken gibt es zuhauf: Sexualität, biologische Familie, Gewaltverhältnisse. Man sieht ihre Austriebe, zum Beispiel die straflose Entführung von besitzlosen, undokumentierten Personen durch Angehörige der herrschenden Klassen. Aber die Wurzeln bleiben tabu und sind umso präsenter.

Auffällig ist in allen drei Kunstmärchen die Gefühlsdeformation der Mächtigen: »Des Königs Herz zog sich schmerzlich zusammen.« »Da verhärtete sich sein Herz.« Und: »›Mein Herz liegt mir wie ein Stein in der Brust‹, sagte er‚ ›so schwer und kalt.‹«

Im Märchen »Der gute Bruder Ulrich« ist von einem Ziehbrüderpaar die Rede. Einer ist geborener Thronfolger und hässlich, missgünstig und unzufrieden. Der andere, Ulrich, ist gütig, duldsam und schön wie ein junger Gott. Als der Königssohn den Thron besteigt, stehen ihm sämtliche weltlichen Genüsse und Vorzüge offen, sogar ein ansehnliches Äußeres verschafft er sich durch eine Umarmung von Ulrich. Der tritt dem König alles ab; selbst seine Frau wechselt den Gatten, es ist ein Running Gag. Der Herrscher kann aber nichts festhalten und ist zu dumm zum Genießen. »›Weshalb (...) sind deine Augen jeden Tag schwarz und glänzend und deine Lippen immer nur weich und rot?‹ Da lächelte die junge Frau sanft und hilflos, denn sie konnte ihn nicht verstehen. Und der König wurde ihrer überdrüssig ...«

Haushofer hat mit diesem pathologisch konsumgeilen Despoten, der seine Bedürfnisse stets befriedigt und der sich sogleich nach dem nächsten Kick sehnt, einen sehr heutigen Typen erschaffen. »Jeder Wunsch«, so Bundi im Nachwort, »dessen Erfüllung nie in Frage steht, verkommt zur mechanischen Inbesitznahme.« Dass wiederum »ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben«, meinte Marx, liege daran, dass »das Privateigentum (...) uns so dumm und einseitig gemacht« hat. Uns. Opfer der Eigentumsverhältnisse ist auch ihr oberster Profiteur. Die Herrschenden sind arme Würstchen. In Haushofers Märchen werden sie nicht vorgeführt, sondern verständlich gemacht.

Marlen Haushofer: Der gute Bruder Ulrich, Märchen-Trilogie. Limbus, Reihe Preziosen, 64 S., geb., 12 €.

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