Für die Wirtschaft lernen wir

Zur ökonomischen Sicht auf Schule und Wissen.

In Deutschland beginnt wieder der Schulunterricht, und das ist laut Ökonomen ein Segen - für die Wirtschaft. Denn wenn die Kinder und Jugendlichen nichts lernen, kostet das viel Geld. Laut einer Studie des Münchener Ifo-Instituts vom Mai würde der Ausfall eines Drittels des Schuljahres die deutsche Wirtschaftsleistung auf Dauer um über 5200 Milliarden Euro drücken. Die Berechnung fußt auf einer ebenso gängigen wie eigenartigen Betrachtung des Verhältnisses von Wissen und Kapital.

Laut Ifo-Institut gibt es »kaum robustere Befunde als den positiven Einfluss von Schulbesuch und Kompetenzerwerb auf wirtschaftlichen Wohlstand«. Die Ökonomen fassen Bildung als Investition: Sie statte die Menschen mit Fähigkeiten aus, die sie beim Ausführen ihrer Arbeitsaufgaben produktiver machen. Wer mehr lerne, verdiene daher später auch mehr: Für Deutschland errechne sich ein Zuwachs des individuellen Erwerbseinkommens von 9,3 Prozent pro Schuljahr.

Mehr Bildung hebt demnach nicht nur die Einkommen, sondern in der Summe auch die gesamte Wirtschaftsleistung. Bildung sei daher »der wohl bedeutendste langfristige Bestimmungsfaktor des wirtschaftlichen Wachstums«. Doch es stellt sich die Frage, ob die kapitalistische Wirklichkeit mit der Gleichung »aus Bildung folgt Wissen, und das Wissen produziert Einkommen« korrekt beschrieben ist. Denn wäre Wissen die bestimmende Voraussetzung für erfolgreiches Arbeiten, könnte es davon nie zu viel geben. Zudem hätte jeder Mensch durch vermehrten Kompetenzerwerb die Möglichkeit, sein Einkommen zu heben und sein Glück zu schmieden.

Im hiesigen Wirtschaftssystem sind Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Menschen tatsächlich eine Ressource - für die Unternehmen. Sie stellen die Qualifikationsanforderungen an die Bewerber und an den gesamten Arbeitsmarkt, und zwar nach zwei Maßstäben: Erstens muss ein Bewerber die inhaltlichen Anforderungen des Arbeitsplatzes erfüllen können, er soll weder über- noch unterqualifiziert sein. Zweitens muss sein Lohn so bemessen sein, dass das Unternehmen einen Gewinn erzielt.

In dieser bestimmenden Rechnung muss Wissen also nicht möglichst reichlich vorhanden sein, es muss zu den Bedürfnissen »der Wirtschaft« passen, sowohl was den Inhalt angeht wie auch die Kosten. Und hier haben die Unternehmen verschiedene Bedürfnisse: nach qualifizierter Arbeit, die mehr kosten darf, und auch nach jeder Menge weniger qualifizierter Arbeit, die billig sein muss. Ob das Wissen dann wirklich eine Ressource für Unternehmen und Bruttoinlandsprodukt ist oder überflüssig, das entscheidet sich am Markt. Auch ein Land wie Deutschland lebt nicht von der Findigkeit und Kreativität seiner Einwohner, sondern vom Konkurrenzerfolg seiner Unternehmen.

Ökonomen heutzutage neigen dazu, dieses Verhältnis so darzustellen, als sei das höhere Einkommen die Folge der vermehrten Bildung. Aus der Tatsache, dass Menschen mit mehr Schuljahren im Berufsleben meist mehr verdienen als die anderen, schließen sie, dass es das erlernte Wissen selbst ist, das die Einkommen erhöht. Die Wahrheit aber dürfte sein: In der Konkurrenz um die guten Jobs haben die besser Ausgebildeten die besseren Chancen, was sich in ihrem höheren Einkommen widerspiegelt. Daraus kann man aber nicht schließen, dass bei längerem Schulunterricht für alle auch alle Einkommen steigen würden.

Nicht das Wissen bestimmt also seine Anwendung. Sondern die Unternehmen definieren ihren Bedarf an Wissen und Unwissen sowie den Preis, den sie dafür zu zahlen bereit sind. Menschen sind nicht arm, weil sie schlecht gebildet sind. Sondern weil die Unternehmen massenhaft billige Arbeitskräfte brauchen, deren Tätigkeit keiner besonderen Qualifikation bedarf. Nicht der Ausfall des Unterrichts und die daraus folgenden »Kompetenzverluste« sind daher das wirkliche Problem der Wirtschaft. Sondern ein anderes, das der zuständige britische Minister Nick Gibbs diese Woche auf den Punkt brachte: »Es ist wichtig für die Wirtschaft, dass die Kinder wieder zur Schule gehen, damit die Eltern zurück zur Arbeit können.«

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