Europäische Gehirngespinste

»Warum Cortés wirklich siegte« ist der Abschlussband von Klaus Theweleits sogenanntem Pocahontas-Zyklus. Doch seine Überlegungen zu Kolonialismus überzeugen nicht

  • Thomas Wagner
  • Lesedauer: 5 Min.

Zu den stärksten Stellen seines neuen Buchs »Warum Cortés wirklich siegte« gehören jene Passagen, in denen der 1942 geborene Schriftsteller Klaus Theweleit davon erzählt, wie er als Heranwachsender in seiner Familie die Auswirkungen der lange vor Hitler beginnenden faschistische Gewalterziehung zu spüren bekommt: »Wer sein Kind liebt, der züchtigt es.« Seine Eltern, die das Nazi-Regime als Mitläufer ohne Parteifunktionen unterstützt hatten, erwarteten Höflichkeit, Gehorsam gegenüber Autoritäten, Sauberkeit, Fleiß und Ehrlichkeit. Dabei sei, so Theweleit, noch nie eine Generation von den eigenen Eltern derart belogen worden wie die seine. »Kein Wort war ›wahr‹ von dem, was sie uns über den Krieg und die ›Kriegsgründe‹ erzählten: die Schweinereien ›des Russen‹, des ›Tommies‹ und ›des Franzmanns‹; die Feigheit und Wortbrüchigkeit der Ithaker; die Hinterhältigkeiten der Pollacken sowie der weiteren Slawenbrut und des ganzen Packs vom ›Balkan‹.« Mit der selbstgerechten Contenance der Eltern sei es aus gewesen, sobald man sie mit den Verbrechen des Nazis konfrontierte. »Sie brachen psychisch zusammen, redeten wirres Zeug wild durcheinander, verteidigten jeden Führer-Scheiß als höchst notwendig und glorreich für Deutschland.« Hitler habe von den Konzentrationslagern nichts gewusst, die Juden selbst schuld am Antisemitismus - so die Ausreden der Eltern.

Mit den Eltern emotional verstrickt

Wer das heute liest, kann den hilflosen Zorn nachvollziehen, den viele Achtundsechziger gegenüber der schweigenden, nach wie vor an Zucht und Ordnung glaubenden Wirtschaftswundergeneration empfanden. Andererseits erstaunt es schon ein wenig, wie tief auch der fast achtzigjährige Theweleit noch mit den Eltern emotional verstrickt erscheint. Er kann es heute immer noch nicht glauben, dass sie ein »warmes Herz und Fürsorge für die eigenen Kinder« empfanden und zugleich »absolute Kälte gegenüber der Ermordung der Juden«. Irgendwann hörte er auf, mit den Erwachsenen zu reden, wenn es nicht unbedingt erforderlich war.

Stattdessen politisierte er sich und erhob immer wieder Einspruch gegen die Interventionskriege der USA und ihrer europäischen Verbündeten. Den liberalen und linksliberalen Leitgestalten der politischen Theorie des Westens - von Hannah Arendt über Ralf Dahrendorf bis hin zu Jürgen Habermas - hält er bis heute vor, sich in »halbstaatliche Verlautbarungs-Instanzen« westlicher Regierungen verwandelt zu haben. »Der Tross bewegte sich nahezu widerstandslos, um nicht zu sagen beflissen, in die Position bemühter Lakaien«. Ähnlich kritisch sieht er die Außenpolitik jener Partei, in der ein großer Teil seines linksradikalen Milieus in den 1980er Jahren eine neue politische Heimat gefunden hatte. Der zur humanitären Intervention deklarierte Kosovokrieg des Jahres 1999 ist für ihn nach wie vor der Sündenfall der Grünen. Die Beharrlichkeit, mit der er am pazifistischen Ideal festhält und es für seine essayistischen Arbeit fruchtbar zu machen sucht, unterscheidet ihn von einem Großteil seiner längst in der sogenannten Mitte der Gesellschaft angekommenen Generationsgenossen.

Wilhelminisches Patriarchat

Seinen guten Ruf als Analytiker autoritärer Gewaltverhältnisse hatte sich der Autor zunächst mit der zweibändigen Studie »Männerphantasien« (1977/78) erworben, deren freche Mischung aus psychoanalytisch informierter Gefühls- und Körperkunde, Literaturwissenschaft, bildender Kunst und US-amerikanischer Popkultur die verstaubte akademische Welt der postfaschistischen Bundesrepublik gehörig aufmischte. Am Beispiel der Selbstzeugnisse von Freikorpssoldaten untersuchte Theweleit, wie Körper und Psyche junger Männer vom wilhelminische Patriarchat kriegstauglich zugerichtet wurden. Zu seiner Arbeitsweise, die sich seit dieser Zeit nicht wesentlich geändert zu haben scheint, schreibt Theweleit heute: »Ich lese, ich kombiniere, ich kann Verbindungen herstellen, auch solche, auf die die Autoren der von mir geplünderten Bücher nicht unbedingt selbst kommen.«

Fragwürdige Überlegenheit

Also heiße es: »blättern, checken, sammeln, lesen, kombinieren; und connect - neu verbinden; sich nicht aufhalten mit ›Kritik‹ des Unbrauchbaren oder ›Schlechten‹. Just forget it. Sich an die guten Sachen halten. Es gibt so viele. Und es gibt kein größeres Schreibvergnügen.« Das will man dem Schriftsteller gerne glauben. Zumal seine essayistischen Textbildcollagen auch ein großes Lesevergnügen bereiten. Man ist inspiriert, auch wenn seine Herleitungen zuweilen auf tönernen Füßen stehen. Auch für den vorliegenden abschließenden Band seines 1999 begonnenen vierteiligen Pocahontas-Zyklus trifft Letzteres zu. Denn die zentrale These, dass sich die in der Kolonialgeschichte zeigende Überlegenheit der Europäer letztlich auf neuronale Veränderungen zurückzuführen sei, die schließlich vererbt wurden, kann nicht überzeugen.

Vor 14 000 Jahren, so Theweleit, hätten die im Zuge der Erfindung von Ackerbau und Viehzucht eingeübten Praxen des Segmentierens und des Frequenzierens bei den daran beteiligten Menschen in fruchtbaren Halbmond zu »Gehirnsprüngen« geführt, die schließlich auch biologisch vererbt worden seien. Dabei seien im heutigen Nahen Osten zuallererst jene »Standardverschaltungen der Gehirne der eurasiatischen Kultur« entstanden, die diese fortan »von allen anderen Populationen auf der Welt« unterschied und die die Grundlage bildeten für die das koloniale Eroberungsgeschäft zuträglichen Erfindungen sowie für das Überlegenheitsgefühl, dass die weißen Konquistadoren von Anfang an begleitete. »Die Technologien von Perspektivismus, Geometrisierung, Mathematisierung, Projektion und Kartographierung sind spätestens im Lauf des 16. Jahrhunderts so sehr in die Körper der über die Meere ausschweifenden Segment-Europäer hineingewachsen, dass Lebewesen, die nicht über diesen High-Tech-Körper verfügen, wenig (oder gar keine) Chancen hatten (haben), als ›Gleiche‹ wahrgenommen zu werden; im Extremfall nicht als ›Menschen‹.«

Ausblendung der Perspektive der Kolonialisierten

So begrüßenswert die Berücksichtigung des in sozial- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen häufig vernachlässigten Körpers, seiner sich historisch wandelbaren Gefühls- und Wahrnehmungsformen aber auch ist, Theweleit trifft damit bestenfalls einen sehr kleinen Teil dessen, was zu einer umfassenden Analyse von kolonialen Gewaltverhältnissen gehören würde. Insbesondere seine Ignoranz gegenüber historisch-materialistischen Untersuchungen sowie die Ausblendung der Perspektive der nicht immer von vornherein zu Verlierern bestimmten Kolonisierten stößt negativ auf. Mit seiner Behauptung, dass die technologische Überlegenheit des »weißen Mannes« nicht zuletzt auf vererbte Gehirnstrukturen zurückzuführen sei, rückt er in die Nähe rassistischer Gewaltlegitimierung. Keineswegs überzeugt zudem die Hoffnung, die Theweleit mit den neuesten technologischen Entwicklungen verbindet. Demnach beinhalteten die neuen digitalen Umwälzungen »die Potenz einer absolut neuen Kultur des Egalitären auf der Welt«. Tatsächlich bestehen die technologischen Voraussetzungen für eine freie und gerechte Gesellschaft schon seit langem. Woran es hapert, ist der kollektive Wille, diese auch durchzusetzen.

Klaus Theweleit: »Warum Cortés wirklich siegte«. Matthes & Seitz, 609 S., geb., 38 €.

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