Von der Pflicht, sich zu erinnern

Ali Yildirim, Freund des ermordeten Ferhat Unvar, berichtet über sein Leben nach dem Anschlag von Hanau

  • Josefine Körmeling, Hanau
  • Lesedauer: 4 Min.

»Es ist schon komisch, dass da jetzt eine andere Bar ist«, sagt Ali Yildirim. Der groß gewachsene, stämmige Mann mit Bart und schwarzem Hemd blickt nachdenklich auf das ehemalige »Midnight«. Die Shishabar ist einer der beiden Tatorte in der hessischen Stadt Hanau, in der vor einem halben Jahr mehrere Menschen von einem Rassisten ermordet wurden. Das »Midnight« ist seit dem Anschlag geschlossen. Nun hat der Besitzer gewechselt und eine neue Bar wurde aufgemacht. Ali steht an der Gedenkstätte vor dem Haus, weiße Tafeln und Blumen erinnern an die Morde. Ali erzählt ruhig und überlegt von der Tatnacht - gleichzeitig könnte seine Aufgewühltheit nicht offensichtlicher sein.

Der gebürtige Hanauer war in der Nacht vom 19. Februar zuhause. Ein paar Tage davor hatte er noch das »Midnight« besucht. »Was, wenn der Täter sich für einen anderen Tag entschieden hätte?«, fragt er. Dann hätte es auch ihn treffen können. Am Tatabend hört er über Bekannte von dem Anschlag. Videos und Bilder von den Schauplätzen der Angriffe werden herumgeschickt. Er will auch selbst zum Ort des Geschehens fahren, aber er kommt nicht durch die Absperrungen der Polizei. Zu dem Zeitpunkt hat noch keiner an rassistische Morde gedacht, sagt Ali.

Noch in der Nacht versucht er, seinen Freund Ferhat Unvar zu erreichen, aber er erhält keine Antwort. Am nächsten Morgen erfährt er, dass der damals 23-Jährige, den er auch als seinen »Bruder« bezeichnet, tot ist. »Das mit den sozialen Medien ist schon komisch«, sagt Ali. »Die Nachricht an Ferhat auf meinem Handy ist immer noch grau - ohne das blaue ›gelesen‹ Häkchen. Das macht einfach etwas mit einem.«

Der 26-jährige Ali hat sein ganzes Leben in Hanau verbracht. Auch während seines Studiums der Wirtschaftswissenschaften in Gießen hat er weiter in seiner Heimatstadt gewohnt. Vermutlich werde er auch hier sterben, sagt er. Ali wirkt aufgebracht, als er auf das Thema Herkunft zu sprechen kommt. Die Stadt sei natürlich seine Heimat. Was solle er also antworten auf die Frage »Wo kommst du her?«, die manche Leute ihm stellen. Komme er etwa nicht aus Hanau, nur weil seine Eltern aus der Türkei sind? »Wir haben ein Rassismusproblem«, erklärt Ali. Gerade deshalb sei es wichtig, sich für eine angemessene Aufklärung des Anschlags einzusetzen. Warum dauerte es zum Beispiel so lange, bis die Polizei alle Informationen über die Mordopfer weitergegeben hatte? »Wir dürfen mit dem Druck nicht nachlassen, bis alle Fragen geklärt sind.«

Außerdem sei es wichtig, dass die Opfer der Tat nicht in Vergessenheit geraten, sagt Ali. »Dafür sorgen wir«, bekräftigt der Hanauer. »Wir«, das ist die »Initiative 19. Februar Hanau«, gegründet von Angehörigen der Ermordeten und Unterstützern. Ali kam über die Mutter von Ferhat in die Initiative. Sie hatte ihn gefragt, ob er mit Medienvertretern sprechen könne und auch, ob er bei der großen Gedenkveranstaltung am Samstag eine Rede halten wolle. Ali sieht den Auftrag als Pflicht seinen Freunden gegenüber. Er kannte fast alle Opfer des Anschlags. Mit Ferhat war er seit Kindheitstagen unterwegs. Bis zum Anschlag trafen sie sich regelmäßig, saßen zusammen am Mainufer in Kesselstadt und sprachen über »das Leben und die Welt«.

Für Samstag hatte die Initiative bundesweit zu einer großen Demonstration in Hanau mobilisiert. Am Abend vor der Veranstaltung erfuhren die Angehörigen, dass der Protest wegen steigender Corona-Infektionszahlen abgesagt wurde. Ali bemüht sich, reflektiert über das Thema zu sprechen. Aber er kommt nicht umhin, eine politische Motivation hinter der Absage zu vermuten. »Ich kann es verstehen«, sagt er, aber die Entscheidung sei einfach zu spontan gekommen. Man merkt ihm die Bitterkeit darüber an, dass die ganze Mobilisierungsarbeit, die Planungsgespräche und das Drucken von Dutzenden Plakaten nun ein Stück weit umsonst waren.

Gegenüber vom ersten Tatort des Anschlags befindet sich auch der »Laden«. Ein Raum, der von der Initiative eröffnet wurde, um einen Ort des Austauschs für die Angehörigen zu schaffen. Von dort macht sich Ali auf den Weg in Richtung Freiheitsplatz, gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Initiative, die große Schilder mit Bildern der Opfer tragen. Bei der Kundgebung hält er dann seine Rede. Er spricht über seine Heimatstadt und über das Versagen der Politik im Umgang mit Rassismus. Von Ferhat, den er als lebensfrohen und gleichzeitig tiefsinnigen Menschen bezeichnet, erzählt er auch. Ali schließt seine Rede mit den Worten seines Freundes. »Wie Ferhat einst sagte: ›Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.‹ Also vergesst die Leute nicht.« Die Menge applaudiert, als er die Bühne verlässt.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.