Zweites Futur bei Sonnenaufgang

Mit »Tenet« wird Christopher Nolan so exzessiv, dass er den Actionfilm in ein Davor und Danach teilt

Um es gleich zu Beginn klarzustellen: Kritiken, die diesen Film vollends raffen, werden in der Zukunft geschrieben. Sie werden in ein paar Wochen, wenn man den Film zwei oder drei Mal gesehen hat, viel Schlaues über Christopher Nolans neuestes Werk »Tenet« erzählen. Es wird Heidegger darin vorkommen oder auch Augustinus, aber jetzt, da dieser Film noch nachglüht, brummt einem so arg die Birne, dass für solche Abstecher schlicht die Besonnenheit fehlt.

Dabei ist die Handlung eigentlich recht simpel, man muss sie nur nicht komplett verstehen wollen. Unserem Fetisch vom linearen Denken verweigert sich »Tenet« gleich nach den ersten fünf Minuten, in denen klar wird, hier stimmt irgendwas mit der Zeit nicht. Patronenkugeln fliegen aus Einschusslöchern heraus, die Waffe scheint sie aufzuschlucken, statt abzufeuern. Ein fieser Bösewicht, mit zu viel Geld (Kenneth Branagh), will die Welt, wie wir sie kennen, auslöschen. Er ist Agent einer unbekannten Macht aus der Zukunft, die die Erde auf Reset setzen möchte, bevor alles so bleibt, wie es ist. Eigentlich keine unsympathische Idee, ginge es dabei nicht um die Vernichtung der Menschheit. Nur eine unfassbar geheime Geheimorganisation und mit ihr der namenlose Protagonist (John David Washington) können den Superbösewicht noch aufhalten.

Zeiten wechseln hier nicht ständig hin und her, sie existieren parallel und genau hier dreht der normal begabte Verstand eine Pirouette nach der nächsten, gibt dann auf und klatscht irgendwann in der Mitte des Films einfach der Länge nach hin.

Wer über umgekehrte Entropie und temporale Zangenbewegung wirklich nachdenken will, verliert wertvolle Lebenszeit. Eine Frau im weißen Kittel erklärt dem Helden gleich am Anfang völlig zu recht: »Versuchen Sie nicht, es zu verstehen. Spüren Sie es.« Und so wummst und rummst es vor sich hin, dass der Kinosessel, nein der ganze Saal, vibriert und man sich in dieser völlig abgespaceten Séance mit der Zukunft, die auch Vergangenheit und Gegenwart zugleich ist, verliert.

Szenen wie die einer Verfolgungsjagd, bei der zwei Zeitebenen gleichzeitig zu sehen sind, ein Auto vorwärts und das andere rückwärts in der selben Gegenwart fahren, hat es vorher so nicht gegeben. Nolan ist bombastischer Purist, arbeitet nicht gern mit Computeranimation und lässt für »Tenet« deshalb auch eine echte ausrangierte Boeing 747 in ein Terminal rasen, nur damit die herabfallenden Splitter keinen unnatürlichen Winkel haben. Und so ist dieser sauteure Film eine ästhetische Offenbarung. Wie sich die Choreografie einer Schlägerei vom Gewohnten abwendet, weil sich zuerst das Gesicht schmerzverzerrt zusammenknautscht, dann die Faust zurückzieht und die Haare wie vom Blitz getroffen davonfliegen, ist das einfach völlig irre anzusehen. Vorbei ist die Zeit, in der die Matrix-Zeitlupe noch als das Ende der Geschichte galt. Den Actionfilm spaltet »Tenet« in ein Davor und Danach. Dabei sind die sonstigen Zutaten eher konventionell. Ein emotional vollimprägnierter Held, ein böser reicher Russe, der scheinbar unbesiegbarste aller Endgegner, weil er in der Zeit vor und zurückspringen kann, eine attraktive Ehefrau, die ihren Mann verabscheut, Knarren, Boote, einstürzende Hochhäuser, teure Autos, die hinterher alle Schrott sind.

Nun ist es nicht so, dass der Film keine Botschaft hat. Es gibt sie sehr wohl, die ein, zwei Knallersätze, die reinhauen und eigene Gedanken hervorbringen könnten, wenn da nicht ständig dieses gewaltige Wumms-Rumms-Vorwärts-Rückwärts wäre, was von den schlauen Sätzen sofort wieder ablenkt, sobald man über sie nachdenken will. Was aber hängenbleibt, ist, dass es bemerkenswert ist, in diesen Zeiten einen Schwarzen Hauptdarsteller mehrfach den Satz sagen zu hören: »I am the protagonist« oder dass die Frau im Film mindestens einen Kopf größer ist als der Mann und das nicht durch behämmerte Kameraeinstellungen zu kaschieren versucht wird. Selbst einen Seitenhieb auf US-Präsident Trump schummelt Nolan noch hinein, als der Protagonist sagt, er sei kein Mann der Deals.

Am Ende geht es um die Frage, die Fridays for Future so nachdringlich wie ungehört stellt: Wann drehen wir endlich das Ruder rum? Es ist Zeit, die Welt vor dem zu retten, was hätte sein können. Momentan aber wirkt es - wie im Film -, als würde die Menschheit fatalistisch ihr Schicksal abwarten. Aber dabei sehen wir gut aus und machen Yoga.

Dass die Figuren in »Tenet« höchstens Breite aber bestimmt keine Tiefe besitzen, ist die logische Konsequenz aus dem Primat der Herrlichkeit von Gewalt und Explosion. Es ist eine Schwäche des Films, die großen Themen anzureißen (Wir kommunizieren durch Apps und Smartphones quasi permanent mit der Zukunft, aber was übermitteln wir da eigentlich?) dann aber geht wieder irgendwas in die Luft, ein invertiertes Auto, das sich rückwärts durch die Zeit bewegt, flippt fünf, sechs, hundertmal über die Autobahn und schon ist das Moment verpasst, wirklich nachdenken zu müssen.

Das ist eben der Film, den das Lockdown-Kino herbeigesehnt hat. Nolan zerrt den Zuschauer aus der klaustrophobischen Enge des Wohnzimmers wieder raus in die völlig abgefahrene Agenten-Wumms-Rumms-Welt und stößt uns in einen Bilderrausch, der wohl erstmal unerreicht bleibt. Bis zur nächsten Welle. Verabschieden sie sich von ihrem linearen Denken

»Tenet«, Regie: Christopher Nolan, Großbritannien/USA 2020, 150 Minuten, Darsteller: John David Washington, Robert Pattinson, Kenneth Branagh, Elizabeth Debicki.

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