Warteschleife ausgelaufen
Jörg-Thomas Wissenbach über die Abwicklung der juristischen Fakultät der Martin-Luther-Universität in Halle an der Saale
Auch im Rückblick nach 30 Jahren muss ich feststellen, dass der politische Umbruch in der DDR für mich völlig überraschend kam. 1987 war ich nach dreijähriger Dozententätigkeit aus Angola zurückgekehrt - aus einem Land im Kriegszustand mit Ausgangssperre, aus einer Wohnung ohne Wasser und mit ständig unterbrochener Stromversorgung und fast vollständig alimentiert durch DDR-Einrichtungen. Die auch an der Universität von Kollegen und Studenten geführten Diskussionen zu Defiziten im DDR-Alltag waren für mich völlig unverständlich.
Aus engen Kontakten mit Angolanern, aber auch mit Dozentenkollegen aus anderen sozialistischen Ländern sowie aus Portugal und Brasilien war mir bekannt, welche Wertschätzung die DDR erfuhr, und dies nicht nur wegen ihrer internationalen Solidarität allgemein.
Liebe Leserinnen und Leser, 30 Jahre ist es her, dass sich in der DDR die politischen Verhältnisse grundlegend änderten und die Reise immer schneller und schließlich unwiderruflich in Richtung deutsche Einheit ging. Unser Leser Dr. Jörg-Thomas Wissenbach wurde von der Abwicklung seines Fachbereichs, der Juristischen und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, an der Martin-Luther-Universität Halle/Saale gänzlich überrascht.
Er betrachtet den Umgang mit den Lehrkräften der DDR-Hochschulen nicht gerade als Ruhmesblatt eines Rechtsstaates.
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Entgegen der später vermittelten Berichte hatten wir an der Universität weitestgehende Diskussionsfreiheit, pflegten sogar einen sehr kontroversen politischen Meinungsaustausch, ohne allerdings bei Entscheidungsträgern wesentlich auf Gehör zu stoßen. Dennoch kannte ich weder im Kollegen- noch im Bekanntenkreis jemanden, der in Halle zu Montagsdemonstrationen gegangen wäre, sondern fand eher die Bereitschaft, sich in den sich nunmehr gründenden Bürgerbewegungen für lokale Anliegen starkzumachen und bei der Neustrukturierung des Lehr- und Forschungsbetriebes an der Uni mitzuwirken.
1990 kamen auch Fachkollegen aus den Altländern an die Universität, die speziell zu Themen referierten, die in der Rechtsordnung der DDR bisher keine Rolle spielten. Sie zeigten sich sogar beeindruckt vom hohen Niveau und der großen Disziplin der Jurastudenten und waren deshalb überzeugt, dass auch im Falle einer Vereinigung beider deutscher Staaten durch Übernahme seitens der Bundesrepublik eine schrittweise Angleichung des Hochschulwesens unter Nutzung der Vorteile und Erfahrungen beider Seiten erfolgen würde. Der Rechtshistoriker Prof. Michael Stolleis ermöglichte einer Kollegin und mir mit einer Gruppe Studenten einen einwöchigen Aufenthalt in Frankfurt am Main - zu einer Zeit, wo wir noch nicht einmal D-Mark hatten; und die Frankfurter Fakultät, Verwaltungseinrichtungen und große Wirtschaftsunternehmen drängelten sich, uns Einblicke in deren Wertesystem und dessen Rechtsgrundlagen zu geben. Prof. Hommelhoff von der Universität Bielefeld verdanke ich einen mehrwöchigen Studienaufenthalt in seinem Institut bei kostenloser Unterbringung und großzügiger fachlicher Beratung.
So kam für mich völlig überraschend die Entscheidung, dass die Juristische und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Martin-Luther-Universität geschlossen wird und die Sektion Staats- und Rechtswissenschaften abgewickelt. Auch hier ging ich noch von einer rein formellen Entscheidung aus, engagierte mich als Sekretär des Senats und Leiter der ersten Personalratswahl an der Uni sowie in der Evaluierungskommission der Sektion. Zudem stand die gesamte Studentenschaft unserer Sektion hinter dem Lehrkörper und machte dies dem damaligen Bildungsminister Jürgen Möllemann bei seinem Auftritt auch sehr deutlich. So schöpfte ich auch noch keinen Argwohn, als immer mehr Personal der Uni Göttingen in Halle auftauchte und deren Studenten im Kofferraum ihrer Pkw unsere wissenschaftliche Arbeit zur vermeintlich fachlichen Evaluierung nach Göttingen transportierten. Ich wurde erst munter, als man im fachlichen Teil der Evaluierung nüchtern befand, dass wir für die weitere Verwendung in Lehre und Forschung entweder gänzlich ungeeignet oder wie in meinem Falle erst nach langjähriger Nachhabilitierung an einer westdeutschen Fakultät befähigt schienen.
Prof. Schulze-Osterloh von der Technischen Universität Berlin, der mir in meinem Fachgebiet des Handels- und Gesellschaftsrechts Hospitationen ermöglichte und auch großzügig Literatur vermittelte, meinte dann väterlich-sarkastisch zu mir: »Aber, Herr Kollege, früher wurden staatsnahe Berufsträger nach Revolutionen erschossen. Sie lässt man am Leben.« Er machte mir Hoffnung für einen beruflichen Neuanfang als Dozent an privaten Bildungseinrichtungen und als Rechtsanwalt.
Mit der Fakultätsschließung in die dreimonatige Warteschleife geschickt, nutzte ich diese für ein kostenloses Praktikum beim Bezirks-, später Landgericht in Halle. Außerdem hatte ich mich mit besten Empfehlungen des gerade aus den Altländern neu berufenen Landgerichtspräsidenten beim Justizministerium als Richter beworben. Im Landgericht erlebte ich nämlich gerade den gleichen Vorgang: Ein Richter nach dem anderen wurde im Ergebnis der persönlichen Evaluierung als für den Justizdienst nicht geeignet befunden und in die Anwaltschaft gedrängt. Als am Ende drohte, dass im neuen Landgericht kein ehemaliger DDR-Richter mehr verbleiben würde, hat man wenigstens die beiden Mitglieder der Evaluierungskommission übernommen.
Mit meiner Bewerbung schaffte ich es immerhin bis zu einem Vorstellungsgespräch in Magdeburg. Auf die Frage des Sachbearbeiters aus den Altländern, ob ich bei meiner die Atomhaftungssysteme in Ost und West vergleichenden Habilitationsschrift nicht gemerkt hätte, dass das bundesdeutsche das bessere System sei, antwortete ich wahrheitsgetreu und naiv, dass im Falle einer Atomkatastrophe wie wenige Jahre zuvor in Tschernobyl das auf vollständigen staatlichen Ausgleich gerichtete System der DDR wohl ebenso überfordert wäre wie das auf privaten Versicherungsmodellen beruhende der Altländer. Damit bewirkte ich, dass ich nun ohne Kündigung, dafür mit dem bedauernden Hinweis des Rektors, dass die Warteschleife ausgelaufen und damit meine Tätigkeit an der Uni beendet sei, mich beruflich völlig neu orientieren musste.
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