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- Opfer des Faschismus
Als das Gedenken noch umfassend war
Vor 75 Jahren wurde in Chemnitz ein Friedhof für die Opfer des Faschismus geweiht
Der Katafalk stand auf dem Pflaster, direkt vor der Zufahrt zum Krematorium des Friedhofs im Süden von Chemnitz. Gekrönt war er von einer symbolischen Urne. Im Hintergrund spannte sich ein Schriftband: »Sie waren die Saat. Wir wollen die Ernte sein.« Daneben ist in der Aufnahme des Arbeiterfotografen Rudi Seidel eine Blaskapelle zu sehen, die für ihren Auftritt später an diesem 8. August 1945 übt: bei der Weihe eines Friedhofs eigens für die »Opfer des Faschismus« (OdF). Der Veranstaltung vor 75 Jahren wird an diesem Sonntag in der sächsischen Stadt gedacht.
Genau genommen wurden an dem Augusttag die Urnen von drei Chemnitzer Widerstandskämpfern beigesetzt: Rudolf Harlaß, Ernst Enge und Georg Klukas. Sie hatten zum Beispiel Zwangsarbeiter in Rüstungsbetrieben der Stadt unterstützt, Flugblätter verteilt, Geld für die Familien Inhaftierter gesammelt. Im Herbst 1944 wurden sie gemeinsam mit 70 Kampfgefährten verhaftet und ermordet; Ernst Enge wurde in seiner Zelle erdrosselt. Nicht einmal den Toten ließ das NS-Regime ihre Ruhe: Klukas’ Leichnam wurde bei der ursprünglichen Trauerfeier Anfang Januar 1945 von der Gestapo beschlagnahmt. Die Urne wurde erst nach der Befreiung im Mai 1945 von der Familie aufgespürt.
Die Beisetzung ein Vierteljahr nach Ende des Krieges wurde zu einer groß angelegten Ehrung für Widerstandskämpfer in der Zeit der NS-Diktatur. Ein Gedenkblatt für den Tag führt 129 Namen auf. 30 000 Menschen waren an jenem 8. August in der Stadt auf den Beinen. Weitere Fotografien von Rudi Seidel zeigen ein Menschenmeer auf dem Friedhof; im Amtsblatt wird drei Tage später beschrieben, wie sich die Teilnehmer in sechs Marschblöcken durch die Stadt bewegen - vor der Kulisse vieler Fahnen, bei denen es sich aber um »kein befohlenes Flaggenmeer« gehandelt habe, wie betont wird. Vielmehr habe es den Willen gegeben, »aus Überzeugung mitzutun«. Mit der Veranstaltung, zu der ein »antifaschistisch-demokratischer Block« aus KPD, SPD, CDU und Liberaldemokraten aufgerufen hatte, habe sich die Stadt, wie es hieß, auf ihre »Stellung als antifaschistische Hochburg besonnen«.
Die Veranstaltung sei in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert gewesen, sagt Enrico Hilbert, Vorsitzender des Opferverbandes VVN-BdA in Chemnitz - nicht zuletzt wegen des breiten Spektrums der Geehrten. Die Spanne reichte von Spanienkämpfern über Beteiligte am illegalen Widerstand, die »in Kerkern und KZ« ermordet worden seien, bis zu Zwangsarbeitern, sowjetischen Kriegsgefangenen und den Opfern der Todesmärsche. Auch an die Verschwörer des 20. Juli 1944 wurde erinnert: Generäle, die »das deutsche Volk vor Hitler und seinem Weg in Chaos und Verderben noch retten wollten«, wie es in einer Rede hieß. In der Gedenkpolitik der späteren Bundesrepublik wurden die Widerständler des 20. Juli lange Jahre ignoriert oder gar diffamiert. Insgesamt, sagt Hilbert, sei damals »sehr vieler Gruppen politisch und rassistisch Verfolgter« gedacht worden.
Das fällt auch deshalb ins Gewicht, weil beim Gedenken in der DDR später der Blick zunehmend verengt wurde, und zwar auf den kommunistischen Widerstand. Das fand Ausdruck in der selektiven Darstellung in Gedenkstätten, in der Auflösung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) in der DDR durch die SED-Führung 1953, aber auch in der Errichtung spezieller »Ehrenhaine der Sozialisten«, wie es auch in Chemnitz einen gibt. Im August 1945 dagegen, sagt Hilbert, sei das Gedenken »noch nicht dominiert von den politischen Direktiven derer, die aus Moskau zurückgekehrt waren«. Entsprechend weit war der Blick.
Bei der Gedenkveranstaltung am Sonntag dürfte auf diesen Kontext bei der Einweihung des Friedhofs eingegangen werden, aber auch auf dessen ästhetische Entwicklung - das erste, sehr individuelle Mahnmal wurde später durch einen Obelisken und in den 1980er Jahren durch eine künstlerische Gestaltung abgelöst, die nach Hilberts Überzeugung nicht vollständig umgesetzt wurde - und den heutigen Zustand. Der OdF-Friedhof, auf dem noch immer Beerdigungen von einstigen Widerstandskämpfern und deren Familienangehörigen stattfinden, stehe »leider nicht unter speziellem Schutz«, sagt Hilbert. Vor der Kommunalwahl 2019 gab es einen Vorstoß der Linken im Stadtrat, das zu ändern und auch Geld für die Unterhaltung bereitzustellen; die Initiative sei aber im Sande verlaufen.
Auch viele Details der Geschichte des Friedhofs seien »weitgehend unerforscht und bisher wenig bekannt«, steht in der Einladung: »Eine Aufarbeitung ist dringend erforderlich«. Noch können dafür Zeitzeugen befragt werden. Zu den Gästen der Gedenkfeier am Sonntag gehört die 95-jährige Marga Simon. Sie ist eine der Töchter von Ernst Enge - und nahm bereits an der Weihe des Friedhofs vor 75 Jahren teil.
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