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Auf dünnem Eis
Grönlands Gletscher schwinden, Rekordtemperaturen in Nordsibirien und selbst am Nordpol schwimmen nur noch Eisschollen. Ist der Kipppunkt schon erreicht?
An der Arktis jagt ein Rekord den nächsten: Das grönländische Eisschild verzeichnete 2019 den größten Eisverlust seit Beginn der Messungen im Jahre 1948. Wissenschaftler*innen des Alfred-Wegener-Instituts Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) fanden im August 2020 Teile des Nordpolarmeeres eisfrei vor, und zur selben Zeit zerbrach das letzte intakte Eisschelf Kanadas.
Grönland kommt im Klimawandel eine Schlüsselposition zu, denn es beherbergt die zweitgrößten Eisvorkommen der Erde. Ihr völliges Abschmelzen würde den Meeresspiegel langfristig um mehrere Meter heben. Mit 532 Milliarden Tonnen verloren die gewaltigen Gletscher der Insel 2019 rund 70 Milliarden Tonnen mehr Eis als im bisherigen Rekordjahr 2012. Dies belegen Daten der Satellitenmission GRACE-Follow On, auf die sich eine Studie des AWI, des GeoForschungsZentrum (GFZ) und internationaler Forschungseinrichtungen unter anderem stützt, die jetzt im Fachjournal »Communications Earth & Environment« erschien. Danach fallen die fünf Jahre mit dem stärksten Eismasseverlust in Grönland in die jüngste Dekade.
Abschwächung des Jetstreams
Ingo Sasgen, Leitautor der Studie, führt den neuen Rekord nicht nur auf die steigenden Sommertemperaturen zurück. Auch die Großwetterlage über der Insel spiele eine entscheidende Rolle: »Immer häufiger haben wir stabile Hochdruckgebiete über dem Eisschild, die den Einstrom wärmerer Luft aus den mittleren Breiten und damit das Schmelzen begünstigen«, erklärt der Glaziologe am AWI. So verhielt es sich auch 2012. In der Wissenschaft wird als Grund dafür die Abschwächung des Jetstreams diskutiert, ein Starkwindband, das über den mittleren Breiten der Nordhalbkugel in etwa 10 Kilometern Höhe weht und von der Temperaturdifferenz zwischen Polen und Äquator angetrieben wird.
Indem sich die Arktis überdurchschnittlich erwärmt, mäandert der Höhenwind stärker als früher. Im Extremfall hängen, wie im Sommer 2018, Großwetterlagen über Monate lokal fest. So lassen sich auch die ungewöhnlich hohen Temperaturen in Sibirien dieses Jahr erklären. Bislang handelt es sich aber noch um eine Hypothese. »Es braucht sehr lange Zeitreihen, um herauszufinden, ob die derzeitigen Schwankungen natürliche Variabilität sind oder aber Folgen des menschgemachten Klimawandels«, so Sasgen. Das gehäufte Auftreten stark ausgeprägter Hoch- und Tiefdruckgebiete deute aber auf eine neue Zirkulationsstruktur der Atmosphäre hin.
Der Professor an der Columbia University und Mitautor der Studie, Marco Tedesco, verweist zudem auf den geringen Schneefall 2019, der den Eisverlust nicht ausgleichen konnte. »Durch den Vergleich von Satellitendaten mit regionalen Klimamodellen konnten wir genau sehen, welcher Prozess wie stark beteiligt war«, sagt er.
Begünstigt wird die Schmelze der grönländischen Gletscher laut einer älteren These durch das Schmelzwasser am Untergrund, das sie schneller gleiten lässt. Weitere verstärkende Faktoren sind eine geringere Viskosität des Eises und die Destabilisierung der Kalbungsfront. Auf lange Sicht verlieren die Gletscher zudem an Höhe. Kein Zurück mehr gibt es, wenn damit ihre ganze Fläche Temperaturen über Null ausgesetzt ist und kein Schnee mehr darauf liegen bleibt. Nachdenklich stimmt die Wissenschaftler*innen aber heute schon, dass trotz der schneereichen und sehr kalten grönländischen Winter 2017 und 2018 die Massenbilanz auch in diesen Jahren negativ war.
Einen starken Verlust an Meereis beobachteten Polarforscher*innen des AWI im August auf ihrer letzten Etappe der MOSAiC-Expedition zum Nordpol, wo sie studieren wollen, wie Meereis entsteht. Dorthin gelangten sie mit dem Forschungseisbrecher »Polarstern« vom letzten Versorgungspunkt in der nördlichen Framstraße auf direktem Weg. Das Meereis war großflächig geschmolzen oder so stark angetaut, dass es sich leicht durchfahren ließ. »Sogar nördlich von 88° Nord sind wir meist mit fünf bis sieben Knoten unterwegs, das habe ich so weit im Norden noch nicht erlebt«, sagte der »Polarstern«-Kapitän Thomas Wunderlich.
Hitze und großflächige Brände
Auch in Sibirien ist der Klimawandel deutlich spürbar. Nördlich des Polarkreises überschritten die Temperaturen diesen Sommer vielerorts 30 Grad, im ostsibirischen Werchojansk maß die örtliche Wetterstelle im Juni erstmals sogar 38 Grad Celsius. Die Stadt befindet sich in einem Gebiet mit eisreichem Permafrost, wo die Temperaturen im Winter auf bis zu 67,8 Grad Celsius unter Null fallen. Aufgrund des dort herrschenden Kontinentalklimas sind die Kontraste zwischen Sommer und Winter seit jeher ausgeprägt, ungewöhnlich ist jedoch das Ausmaß der diesjährigen Hitzewelle.
Ebenfalls Schlagzeilen machten in Nordostsibirien, wie schon im Vorjahr, großflächige Waldbrände. Bereits im Juli stand im Osten Sibiriens eine Fläche in der Größe Portugals in Flammen. Elisabeth Dietze, die am AWI das Auftreten sibirischer Waldbrände über weite Zeiträume untersucht, erklärt dies mit einem milden Winter und ungewöhnlich hohen Temperaturen im April. Diese hätten die Böden bereits zu diesem Zeitpunkt ausgetrocknet. Auch lösche die russische Feuerwehr seit 2015 in so entlegenen Regionen nur noch Brände, die Infrastrukturen gefährdeten, um Kosten zu sparen.
In der betroffenen Region in Jakutien dominieren lichte Lärchenwälder. »Im Unterwuchs wachsen viele Moose und Flechten, teilweise mehrere Zentimeter mächtig«, erklärt die Wissenschaftlerin. »Diese bilden eine Art Isolierung für den darunter liegenden Permafrostboden.« Da die Lärchen im Winter ihre Nadeln verlieren, entsteht außerdem im Gegensatz zu den immergrünen Nadelwäldern weiter im Süden oder in Nordamerika eine stärkere Albedo, weil der Schnee das Sonnenlicht reflektiert. So herrschen an ihrem Boden im Winter Temperaturen zwischen minus 40 und minus 50 Grad.
»Regelmäßige Bodenfeuer verhindern bisher, dass der immergrüne Nadelwald weiter nach Norden vordringt. Denn anders als dieser können die Lärchen mit ihnen umgehen«, so Dietze. Erreichten die Feuer jedoch solche Ausmaße wie in den letzten beiden Sommern, würden auch sie zu einem Problem: »In den ersten ein bis zwei Jahren nach dem Brand ist die Oberfläche schwarz und heizt sich damit stärker auf. So können Auftauprozesse viel tiefer stattfinden.« Auch fehle dem Boden nun die natürliche Isolierschicht. Langfristig könnten intensive Großfeuer den Weg für ein neues Ökosystem bereiten.
Doch nicht nur die Waldbrände setzen dem teilweise seit Jahrtausenden gefrorenen Boden zu: »Satellitendaten geben über lange Zeiträume Aufschluss über Veränderungen im Permafrost. Die Bildung von Seen, stark erodierende Küsten, absinkende Landmassen und Hangrutsche lassen sich über 15 bis 20 Jahre in sehr hoher Auflösung gut nachvollziehen«, berichtet der Permafrostexperte am AWI Potsdam, Guido Grosse.
Eine der zentralen Fragen in der Wissenschaft ist dabei die nach dem sogenannten Kipppunkt: Laut Grosse sind in den Permafrostböden in Form von Pflanzen- und Tierresten bis zu 1600 Gigatonnen Kohlenstoff gespeichert, etwa doppelt so viel, wie sich gegenwärtig in Form von CO2 oder Methan in der Atmosphäre befindet. Zersetzen Mikroben das aufgetaute organische Material, entweichen dabei erhebliche Mengen von Treibhausgasen, die ihrerseits die Atmosphäre anheizen. Ab einem bestimmten Punkt ist diese Entwicklung nicht mehr umkehrbar. Wann das jedoch ist, daran wird noch geforscht.
Zeitbombe Permafrostböden
»Früher hieß es in der Klimawissenschaft, die Arktis erwärmt sich doppelt so schnell wie der Rest des Planeten. Jüngste Daten zeigen aber, dass sie sich sogar dreimal so schnell erwärmt«, warnt Grosse. Tatsächlich entdecken die Wissenschaftler*innen in diesem Kontext immer noch neue, unbedachte Prozesse. So lassen die Seen im Permafrost West-Alaskas den umliegenden Boden schneller auftauen und emittieren erhebliche Mengen Methan. Satellitenbilder zeigen nun regional eine verstärkte Drainage dieser Seen. »Vermutlich wird die sommerliche Auftauschicht tiefer, sodass sich am Seerand Rinnsale entwickeln, aus denen schnell sich verbreiternde Kanäle entstehen«, erklärt Grosse. »Durch sie kann das komplette Wasser eines Sees binnen weniger Tage auslaufen, da es keine Permafrost-Barriere mehr gibt.« Unklar ist noch, ob dies die Emissionen der verlandeten Seen verhindert oder neue Feuchtgebiete mit vielleicht noch stärkeren Emissionen entstehen.
Ebenfalls völlig unerwartet kam für die Forscher*innen des AWI das aktuelle Vordringen der Biber in die Tundra Alaskas. Indem sie kleine Flüsse stauen, treiben auch sie den Tauvorgang des Permafrosts voran. »Die Veränderungen treten oft sehr viel schneller auf, als man Antworten hat«, beobachtet Dietze. Grosse plädiert deshalb an die Politik, endlich Maßnahmen für eine drastische Reduktion der Treibhausgasemissionen zu ergreifen: »Momentan ist es schwierig, als Polarforscher optimistisch zu bleiben. Die Veränderungen sind sehr dramatisch, das kann man nicht beschönigen.«
So sieht das auch Ingo Sasgen: »Das System ist bereits aus dem Gleichgewicht geraten und die ausgelösten Veränderungen werden noch lange Zeit nachwirken, selbst wenn wir den Treibhausgasausstoß von heute auf morgen auf Null senken würden«, meint er. »Aber es macht einen großen Unterschied, ob wir die Arktis weiter erwärmen oder nicht, denn damit ändert sich die Rate, mit der der Meeresspiegel steigt und das Risiko wächst, die Kipppunkte zu überschreiten, von denen niemand weiß, wo sie liegen.«
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