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Die große Verunsicherung
Wie viel Krisenwissen steckt in Filmen und Fernsehserien?
Ein neuartiges über die Luft übertragbares Virus versetzt die Welt in Schrecken: Der aggressive Erreger, der erstmalig in Fernost beobachtet wird, ruft heftige, zum Teil tödliche Krankheitsverläufe bei den Infizierten hervor und breitet sich rasant auf dem gesamten Erdball aus. Während die Opferzahlen schnell in die Höhe steigen und sich die Menschen verängstigt in die eigenen vier Wände zurückziehen, wirkt die Politik anfänglich überfordert, muss die vielen Erkrankten in überfüllten Notkrankenhäusern, in Zeltstädten und Turnhallen behandeln und in Parks Massengräber ausheben. Zwar ist die Quelle des Virus durch die Wissenschaft schnell ausgemacht (»Irgendwo auf der Welt traf das falsche Schwein auf die falsche Fledermaus«), doch so mancher schamlose Krisen-Profiteur wittert schon das große Geschäft mit der Angst: Erst behaupten Verschwörungstheoretiker, das Virus sei in Wahrheit in einem Labor als militärische Waffe gezüchtet worden, dann warnen sie vor den angeblichen Folgeschäden, die die zügig entwickelte Impfung auslösen würde - und inszenieren sich dabei als die einsamen Aufklärer eines vermeintlichen Komplotts einzelner Mächtiger gegen die Menschheit. Angesichts der großen Verunsicherung ziehen diese Hirngespinste viele Leichtgläubige schnell auf Webseiten mit viel gewinnbringender Werbung, während andere wütend auf die Straße gehen, um gegen »die da oben« zu protestieren, die doch nur an sich selbst denken würden.
Was wie eine Zusammenfassung der realen Ereignisse der letzten Monate erscheint, ist auch die Rahmenhandlung von »Contagion«, eines Spielfilms von Steven Soderbergh aus dem Jahr 2011: Vor knapp zehn Jahren hielten sich Begeisterung und Erfolg für das mit hochkarätigen Hollywood-Stars besetzte und zugleich weitestgehend realistisch gehaltene Pandemie-Drama in Grenzen - doch nun, im Jahr 2020, gehört er zu den am häufigsten kostenpflichtig gestreamten Filmen überhaupt. Aus heutiger Perspektive erscheint »Contagion« als fast prophetische Warnung vor den Gefahren einer hypermobilen global vernetzten Weltgesellschaft, in der Pandemien leichtes Spiel haben.
Dabei ist der Film nur einer von vielen, der mit einer der größten Gefahren der spätmodernen Lebensweise spielt: Blockbuster wie »I Am Legend« (2007) und »World War Z« (2013), Arthouse-Filme wie »Perfect Sense« (2011) und »Children of Men« (2006) sowie fantastische Serien um gefährliche Erreger, die vom Himmel fallen (»The Rain«, 2018-2020) oder die Infizierten in Zombies verwandeln (»The Walking Dead«, 2010-), füllen seit geraumer Zeit erhebliche Teile des Kino- und Fernsehprogramms. Ein Vorbeikommen an diesen Virus-Narrativen ist kaum möglich. Doch obwohl das Thema nicht nur in der Populärkultur, sondern auch in unzähligen wissenschaftlichen Studien, behördlichen Szenarien und amtlichen Plänen durchgespielt wurde, traf »Corona« die ganze Welt weitestgehend unvorbereitet.
Hätten wir (und insbesondere die Politik) aus den Pandemie-Filmen und -Fernsehserien der letzten Jahre lernen und uns damit besser auf solche Situationen vorbereiten können? Das lässt sich im Nachhinein kaum beantworten. Klar ist: Wir stehen nicht nur erst noch am Anfang der Corona-Krise, sondern die Zukunft wird auch immer wieder neue, vielleicht sogar noch aggressivere Krankheitserreger mit sich bringen, mit deren Folgen wir individuell und gesellschaftlich umgehen werden müssen.
In den Pandemie-Narrativen wie »12 Monkeys« ist es häufig ein einsamer Einzelner, der (wie das Kino selbst) vor allen anderen vorausahnt, dass da »etwas auf uns zukommt« - doch meistens bleibt er als scheinbar Verrückter fatalerweise ungehört, woraus sich in der Folge erst der tragische apokalyptische Handlungsverlauf entfalten kann. Die filmischen Weckrufe lassen sich auch für die Realität nutzbar machen: So warnen die Filme etwa vor den Gefahren zunehmender sozialer Entfremdung durch Isolation und Rückgang des öffentlichen Lebens, vor politischem Extremismus, der die Situation für die Verbreitung und gewaltvolle Verwirklichung ihrer Wahnvorstellungen ausschlachten will, oder vor der erheblichen Belastung für Kinder und Jugendliche, wenn sie kein altersgemäßes Leben führen können.
Filme und Fernsehserien genießen die künstlerische Freiheit, sich auf spekulative Weise mit Trends auseinanderzusetzen, die zunächst unwahrscheinlich scheinen oder noch nicht im allgemeinen Diskurs angekommen sind. Zugleich kann in solch fiktiven Szenarien nützliches Wissen stecken, wie mit diesen Herausforderungen sinnvoll umgegangen werden kann: Während die Figuren in dramatisiert-zugespitzter Weise vorführen, wie sie ihre Probleme zu bewältigen versuchen, erscheinen darin für die Zuschauenden potenziell hilfreiche Verhaltensfragmente, die auch real zum Einsatz kommen können und von uns in der Regel intuitiv und unbewusst aufgenommen werden. Auf diese Weise kommuniziert eine Gesellschaft, was in ihr als angemessenes und unangemessenes Verhalten betrachtet werden kann und unterstützt die Modernisierung durch die ständige Aktualisierung des Verhaltenswissens entsprechend den sich wandelnden Anforderungen einer hochkomplexen Welt.
Viele Verhaltensweisen, die im Film als angemessen inszeniert wurden, haben sich in der realen Pandemie als nachahmenswert erwiesen, etwa das Vermeiden unnötiger Sozialkontakte, die solidarische Unterstützung und der Schutz der Schwächsten und Hilfsbedürftigsten in der Gesellschaft oder eine Bevorratung von Nahrung und Trinkwasser.
Politiker und Entscheider in Verantwortung überall auf der Welt hingegen scheinen die Signale der filmischen Pandemie-Szenarien nicht gehört zu haben. In der argentinischen Satire »Phase 7« (2010) etwa treffen während einer tödlichen Seuche übervorsichtige »Prepper« in Zivilschutz-Vollmaske auf erschreckend unbeholfene Tagträumer, die gern ihre Nase aus dem Mundschutz hervorragen lassen. In »The Last Days« (2013) oder »Fear The Walking Dead« (2015-) wird die Bevölkerung lange damit beruhigt, es handele sich bei der neuen Gefahr lediglich um eine Art Grippe - was diejenigen, die sich ohnehin krampfhaft an ihre fragile Lebensnormalität klammern, in ihrer naiven Unvorsichtigkeit nur noch bekräftigt, und zugleich diejenigen, die sich auf eine Pandemie gedanklich bereits eingestellt haben, vor den Kopf stößt und große Skepsis erzeugt. Und Filme wie »Invasion« (2007) und die »Stadt der Blinden« (2008) finden starke Bilder für eine Gesellschaft ständiger gegenseitiger Verdächtigung, Missgunst und Gewalt, die droht, wenn der Staat sein Gewaltmonopol zu verlieren scheint und manche sich als Behelfssheriff aufspielen oder vom Staatsstreich träumen.
Aus diesen frei erfundenen Dystopien lassen sich positive Gegenbilder und Verhaltensempfehlungen ableiten, die während der Krise Orientierung bieten und helfen können, das Schlimmste abzuwenden: Mehr internationale Zusammenarbeit und weniger nationaler Protektionismus, mutige Entscheidungen statt auf Machterhalt und Harmonie bedachte Scheinlösungen, proaktive behördliche Kommunikation gegen grassierende Fake News.
Und es gibt auch die direkt nachahmbaren Idealtypen, etwa einen empathischen und intelligenten US-Präsidenten in »Designated Survivor« (2016-2019), der schnell interveniert, Experten einbindet, die UN stärkt, proaktiv die Öffentlichkeit informiert, sich von Pharmakonzernen keinen Bären aufbinden lässt und sich mit kleinen Gesten und echter Unterstützung wertschätzend gegenüber dem erschöpften medizinisch-pflegerischen Personal zeigt. Hier könnte sich so mancher realer Amtsträger einige Scheiben abschneiden. Aber auch jeder Einzelne findet in den Fiktionen Anregungen, wie er etwa die Zeiten der Isolation in Homeoffice und Quarantäne besser bewältigen oder seine Mitmenschen unterstützen kann.
Die lebendigen Bilder des Films führen uns vor, mit welchen fatalen Konsequenzen zu rechnen ist, wenn wir beginnen, die Gefahr von Pandemien - jetzt wie in Zukunft - auf die leichte Schulter zu nehmen. Es bleibt die Hoffnung, dass jede und jeder Einzelne von uns jetzt die letzte Gelegenheit nutzt, sich mit Hilfe von Film und Fernsehen bewusst zu machen, was drohen könnte, wenn wir dieser Krise nicht rechtzeitig Herr werden, wenn wir nicht zeitnah mit der Vorbereitung auf ähnliche, vielleicht sogar gravierendere Gesundheitskrisen beginnen - und wie wir vielleicht sogar, allen schmerzhaften Verlusten zum Trotz, gestärkt daraus hervorgehen könnten, wenn wir erkennen, dass sich die Herausforderungen unserer Zeit nur gemeinsam bewältigen lassen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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