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  • Mietenwahnsinn in München

Der Nimbus fällt

Kein Platz mehr für das Personal der Reichen? Münchens Attraktivität wird für Normalverdiener zunehmend zum Problem

  • Rudolf Stumberger
  • Lesedauer: 7 Min.

Der dialektische Materialismus kennt bekannterweise das Gesetz vom Umschlagen einer Qualität durch Veränderung von Quantität: Wenn Wasser zu kochen beginnt, wird daraus Dampf. In München ist es jetzt soweit. Der dialektische Sprung steht bevor. Die Attraktivität, die die »heimliche Hauptstadt Deutschlands« ausstrahlt, verwandelt sich ins Gegenteil: Horrende Mieten, aberwitzige Bodenpreise, steigende Lebenshaltungskosten und ein enormer Einwohnerzuwachs verleiden den Münchnern zunehmend das Leben. Der Nimbus der Stadt ist am Kippen.

Bei Föhn sind von der Innenstadt in der Ferne die Berge zu sehen - aber vergiss es. Wer sich am Wochenende dorthin begeben will, steht erstmal im Stau - am Morgen beim Hinausfahren, abends dann bei der Rückkehr. Früher war es möglich, auf den Radwegen entlang der Isar die Natur zu genießen - heute ist das eine Radfahrerpiste, bei der man aufpassen muss, nicht unter die Räder zu kommen. Jetzt, nach dem Corona-Höhepunkt, kann man wieder in die Biergärten gehen. Man zahlt allerdings 5,30 Euro für die Halbe. München muss man sich leisten können - und das funktioniert immer weniger. Für Normalverdiener wird die Stadt allmählich zur »feindlichen Umgebung«.

Früher war das Isar-Hochufer ein Arme-Leute-Stadtteil

Das sagt nicht die Linkspartei, sondern die Studie »DNA des Erfolges. Stadt der Zukunft 2040. Investorenchance München«. Erstellt hat sie 2017 die Immobilienfirma Wealthcap - der größte Investor am Münchner Gewerbeimmobilienmarkt - gemeinsam mit der Fraunhofer-Gesellschaft. Darin werden verschiedene Zukunftsszenarien entworfen; eines davon nennt sich »Die entfesselte Stadt«. Dabei wird davon ausgegangen, dass die bisherige soziale und ökonomische Situation in der bayerischen Landeshauptstadt in eine Schieflage gerät, sich die Schere zwischen Reich und Arm weitet. Dafür gibt es zunehmend Anzeichen.

Die Au und das Isar-Hochufer in München waren früher Arme-Leute-Viertel. Unten am Auermühlbach reihten sich in krummen Gassen Holzhütte an Bretterbude, bis alles in einer Bombennacht des Zweiten Weltkriegs im April 1944 zum Raub der Flammen wurde. Hier entstanden anschließend Häuser im Architekturstil der Nachkriegszeit - eher praktisch als schön. Oben am Hochufer hatte schon früher ein katholischer Siedlungsverein Wohnhäuser für die Arbeiter gebaut, damit diese nicht zu den Sozialisten überliefen. Schräg gegenüber diesen »Josephs-Häusern« errichtete eine Wohnungsgenossenschaft in den 1920er Jahren ihren Wohnblock mit Genossenschaftswohnungen.

Das Viertel war ein Viertel der Arbeiter, die ihr Geld entweder bei der Paulaner-Brauerei, beim Pfanni-Werk oder in der Zündapp-Fabrik verdienten. Das war im Prinzip so bis Ende der 1980er Jahre, dann begann sich das Viertel zu ändern, die Tante-Emma-Läden verschwanden. Jetzt können die Anwohner einem neuen Modernisierungsschub beiwohnen: dem Bau von Luxuswohnungen.

Drei-Zimmer-Wohnung für drei Millionen

»Die Wohnungen, die hier entstehen, kann sich keine normale Familie mehr leisten«, sagt Jörg Spengler und blickt auf den Rohbau, der gerade an der Regerstraße emporwächst. Spengler ist Vorsitzender des zuständigen Bezirksausschusses Haidhausen-Au, der sich schon einige Zeit lang mit der Bebauung des Paulaner-Geländes beschäftigen musste. Seit dem Wegzug der Brauerei schießen hier die Fantasien und die Quadratmeterpreise der Investoren und Bauherrn in die Höhe. »Hoch der Isar«, preist eine Firma ihre hier entstehenden Nobelresidenzen an: »exklusive Lobby mit Consierge-Service«. Die Drei-Zimmer-Wohnung mit »City-Blick« ist für rund drei Millionen Euro zu haben, das »Townhouse« kostet dann schon fünf Millionen Euro. Die 80-Quadratmeter-Wohnung für rund eine Million Euro ist da fast schon ein Schnäppchen. Auch unten in der Au geht es hoch her, was die Immobilienpreise anbelangt. Dort entsteht am Auer Mühlbach das »Haus Mühlbach« wie es in der Verkaufspoesie dieser Branche heißt: Das ehemalige Untersuchungsgefängnis wird derzeit zu Luxusappartements umgebaut.

Klar ist: Weder unten in der Au noch am Hochufer werden Busfahrer oder Altenpflegerinnen in die Luxuswohnungen einziehen. Das Viertel wird seine soziale Zusammensetzung ändern und auch die umliegenden Wohnungen sind nun dem Preisdruck ausgesetzt. Hier und an vielen anderen Stellen der Stadt auch ist München dabei, eine Stadt der Reichen zu werden.

Eine Entwicklung, die zum Bumerang werden kann. Denn irgendwo müssen auch diejenigen wohnen, die in den Luxusappartements die Toiletten putzen, als Polizei für Sicherheit sorgen und die Trambahnen lenken. So sorgt sich die Studie der Immobilienbranche um die abnehmende Attraktivität einer Stadt wie München: »Kümmern sich Städte nicht um die Daseinsvorsorge, erschweren sie es Gering- und Normalverdienern, dort zu wohnen. Deshalb sollte sich die Stadtpolitik nachhaltig für die soziale Gerechtigkeit stark machen und verhindern, dass gentrifizierte Viertel das Stadtbild prägen.« Könne die Stadt leistbare Mieten nicht garantieren, würden sich Menschen anderweitig orientieren - wie auch die Unternehmen, die auf gut ausgebildete Fachleute angewiesen sind. Und: »Neben dem wirtschaftlichen Verlust verringert die Stadt auch ihre soziale und kulturelle Vielfalt. Das könnte ein Standortnachteil sein«, so die Sorge der Immobilienbranche.

Die Viertel der »Verlorenen«

In der Corona-Krise waren sie noch die Helden: Altenpfleger, Krankenschwestern, Busfahrerinnen und Verkäufer. Für die Stadt der Zukunft und ihre digitalisierte Ökonomie aber sind sie die »Verlorenen«, also die Verlierer, wie sie die Studie der Immobilienbranche in dem Szenario beschreibt. Ein Blick in die Stadtviertel der »Abgehängten« zeigt dies. »Eine weitere Polarisierung von Arbeit in Richtung hochqualifizierter und gut bezahlter Erwerbsarbeit in den hochproduktiven industriellen Dienstleistungsbranchen einerseits und in Richtung einfacher, personenbezogener und gering entlohnter Dienstleistungsarbeit andererseits ist folglich ein nicht unwahrscheinliches Szenario, welches die Stadt München künftig noch stärker als heute prägen könnte - mit den Implikationen für die Sozialstruktur, aber auch für den Immobilienmarkt«, heißt es in der Studie »DNA des Erfolges«. Und weiter: »Im Jahr 2040 ist München geprägt von sozio-ökonomischen Transformationsprozessen, die das soziale Konsensmodell, das auf hoher Wirtschaftskraft und hoher Lebensqualität für alle Münchner basierte, mehr und mehr unterspült haben.«

Treibende Kräfte dieser Entwicklung seien die Digitalisierung und Ökonomisierung der Gesellschaft, so die Autoren. Und: »Dabei ist die Schere zwischen denjenigen, die von diesen Entwicklungen profitieren, und denjenigen, die in einem wirtschaftlich harten und zuweilen feindlichen Lebensumfeld den Traum der Möglichkeiten träumen, ohne diesen jemals verwirklichen zu können, stetig größer geworden.«

Hier leben die meisten Familien mit Kindern und die meisten Arbeitslosen

Die von den Autoren identifizierte Gruppe der »Lost« (Verlorenen) wird mit 20 Prozent der Stadtbevölkerung angegeben. Sie sind zwischen 50 und 65 Jahre alt und empfinden die Digitalisierung nicht als Chance, sondern als Bürde. Sie sind nicht gut ausgebildet und haben den Anschluss verpasst bei der Umstellung auf digitale Medien und Infrastrukturen. Sie machen gerade eine Umschulung und nehmen immer wieder befristete, gering bezahlte Jobs an. Aus der Innenstadt wurden sie an den Stadtrand gedrängt. Was hier als Zukunftsszenario formuliert ist, beschreibt Menschen, die bereits in der heutigen Realität an den Münchner Stadträndern wohnen: Zum Beispiel in Ramersdorf-Neuperlach im Osten oder im Hasenbergl im Norden. Diese Viertel zeichnen sich durch gemeinsame Merkmale aus: Hier leben die meisten Familien mit Kindern, die meisten Arbeitslosen und die meisten Hartz IV-Bezieher. Charakteristisch ist auch das politische Verhalten: In diesen Vierteln ist die Wahlbeteiligung am niedrigsten und der Anteil der AfD-Wähler am höchsten - ein seit Jahren anhaltender Trend.

Warnung vor Armut kommt zu spät

Baulich zeichnen sich diese Stadtteile durch den sozialen Wohnungsbau der 1950er, 1960er und 1970er Jahre aus: Wohnblocks und Hochhäuser, eine eher unterentwickelte Infrastruktur, was etwa Schwimmbäder und weiterführende Schulen anbelangt. Aber auch diese Viertel sind längst nicht mehr gefeit gegen Gentrifizierung. Viele der ehemaligen Sozialwohnungen sind aus der Sozialbindung gefallen, und die Folgen einer kapitalgetriebenen Stadtentwicklung sind auch hier zu sehen. So wird in der Trabantenstadt Neuperlach jetzt für einen Neubau nicht mehr mit Wohnungen, sondern mit »Logen« geworben, die Zweieinhalb-Zimmer-»Loge« mit 66 Quadratmeter kostet eine halbe Million Euro - geradezu ein Schnäppchen in der Landeshauptstadt.

So ist das Szenario der Immobilienstudie - die sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich - in München längst Realität geworden. Dort erwarten die »Verlorenen« von der Politik nicht viel, und wenn sie noch zur Wahl gehen, dann wählen sie oft die AfD aus Protest. Die prosperierende Stadt der Zukunft wird für sie zunehmend zu einem feindlichen Umfeld, in dem sie nur durch staatliche Hilfen überleben können. München ist »eine Paradestadt für den digitalen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts«. Dieser Satz stammt ebenfalls aus der Studie des Immobilieninvestors und könnte doch ebenso das Produkt einer Analyse der Linkspartei sein.

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