Auf der Anklagebank nur Mitwisser

Prozess zum Terroranschlag auf die Redaktion von »Charlie Hebdo« beginnt in Paris

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 5 Min.

In Paris beginnt am heutigen Mittwoch der erste Prozess zur Serie islamistischer Terroranschläge, die 2015 Paris erschüttert und insgesamt 258 Tote gefordert haben. Doch eine umfassende juristische Aufarbeitung dieser Morde, auf die vor allem die Angehörigen der Opfer gehofft haben, dürfte es nicht werden. Da die Täter tot und die Auftraggeber unbekannt sind, sitzen auf der Anklagebank 14 Männer, bei denen es sich höchstwahrscheinlich nur um zweit- und drittrangige Mitwisser und Helfer der Mörder handelte. In dem im Pariser Justizpalast durchgeführten Verfahren vor einem speziell für diesen Fall zusammengestellten Strafgericht aus fünf Berufsrichtern geht es um die Morde am 7., 8. und 9. Januar 2015 in der Redaktion der Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« und in dem jüdischen Lebensmittelgeschäft Hyper Cacher.

Am Vormittag des 7. Januar vor fünf Jahren sind zunächst die Brüder Said und Chérif Kouachi, die schon seit Jahren in dschihadistischen Kreisen verkehrten und deswegen bereits zeitweise von der Polizei überwacht worden waren, in die Zeitschriftenredaktion eingedrungen, wo gerade eine Sitzung der ständigen und einiger externer Mitarbeiter stattfand. Das Magazin war schon wiederholt von Dschihadisten bedroht worden, und Chefredakteur Stéphane Charbonnier (Jg. 1967), besser bekannt als Charb, stand schon unter Polizeischutz, weil »Charlie Hebdo« 2006 zu den wenigen Blättern in der Welt gehörte, welche die Mohammed-Karikaturen des dänischen Zeichners Kurt Westergaard nachgedruckt hatten. Die Gebrüder Kouachi schossen mit Maschinenpistolen auf die Teilnehmer der Redaktionssitzung, wobei elf Personen - darunter Charb sowie die Karikaturisten Cabu und Wolinski sowie ein Personenschützer der Polizei - getötet und weitere Menschen zum Teil schwer verletzt wurden. Auf ihrer Flucht mit dem Auto hielten die Mörder zwei Straßen weiter bei einem dort patrouillierenden Polizisten an und erschossen ihn aus nächster Nähe. Stunden später wurde ihr Fluchtauto leer in einem anderen Pariser Viertel entdeckt. Darin fand die Polizei den Personalausweis eines der Brüder. Offensichtlich wollten sich die Täter damit zu dem Mord bekennen. Sie hatten inzwischen die Flucht mit einem anderen Auto fortgesetzt, das sie dem Besitzer mit vorgehaltener Waffe abgenommen hatten.

Auf deren Spur kam die Polizei erst zwei Tage später, dank einer Videokamera an einer Tankstelle. Auf ihrer planlosen Flucht machten die Brüder Kouachi willkürlich noch vor einer Druckerei in der 40 Kilometer nordöstlich von Paris gelegenen Ortschaft Dammartin-en-Goele halt, sie drangen dort ein und nahmen den Besitzer als Geisel. Ein Mitarbeiter hatte sich in einem Schrank verstecken können und blieb so von den Tätern unentdeckt. Als die Polizei das Gebäude umstellte und sich auf einen Sturm vorbereitete, brachen die Brüder Kouachi aus, feuerten mit ihren Maschinenpistolen auf die Polizisten, unter deren Schüssen sie dann starben.

Unterdessen war am 8. Januar in der Pariser Vorstadt Montrouge eine Polizistin auf offener Straße erschossen worden. Wie sich später herausstellte, handelte es sich bei dem Mörder um Amédy Coulibaly, einen Kleinkriminellen, der sich im Gefängnis unter dem Einfluss von Islamisten radikalisiert hatte. Am nächsten Tag drang Coulibaly, der offenbar in ständigem telefonischem Kontakt mit den Brüdern Kouachi stand und sich mit ihnen abstimmte, am östlichen Stadtrand von Paris in den jüdischen Laden Hyper Cacher ein, erschoss dort vier Kunden und nahm weitere 17 als Geiseln. In einem Telefonat mit der Polizei bekannte er sich zum IS und forderte freien Abzug für die von der Polizei in Dammartin-en-Goele belagerten Kouachi-Brüder. Zeitgleich mit dem dortigen Feuergefecht stürmte die Polizei den Laden, in dem sich Coulibaly verbarrikadiert hatte, erschoss ihn und befreite die Geiseln.

Nur zwei Tage später, am 11. Januar, fanden in Paris und anderen Städten unter dem Motto »Wir sind Charlie« riesige Demonstration für Toleranz, gegen Fanatismus und Gewalt statt, an denen allein in der französischen Hauptstadt 1,5 Millionen Menschen teil nahmen, darunter auch mehr als 40 ausländische Staats- und Regierungschefs, und in ganz Frankreich waren es vier Millionen.

Der Prozess, der fünf Jahre nach den blutigen Ereignissen jetzt in Paris beginnt, hat trotz der dürftigen Besetzung der Anklagebank ungewöhnliche Dimensionen. Bis zum 10. November sind 45 Verhandlungstage angesetzt. Die Ermittlungsakten umfassen 171 Ordner. Mehr als 100 Zeugen werden aufgerufen; 90 Anwälte vertreten die 14 Angeklagten und rund 200 Nebenkläger. Es wurden Journalisten von 90 Zeitungen sowie Rundfunk- und Fernsehsendern akkreditiert, darunter 27 aus dem Ausland. Die Angeklagten müssen wegen »Beihilfe zum Mord« und »Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation« mit langjähriger oder lebenslanger Haft rechnen. Die schwerste Strafe erwartet Ali Riza Polat, der den Terroristen die Waffen beschafft hatte. Gegen drei Angeklagte wird in Abwesenheit verhandelt. Die Brüder Belhoucine sollen den Kontakt der Brüder Kouachi und von Coulibaly zum IS hergestellt und Weisungen übermittelt haben. Sie wurden möglicherweise inzwischen bei Kämpfen in Syrien getötet. Hayat Boumedienne, die Lebensgefährtin von Coulibaly, die über Spanien und die Türkei nach Syrien entkommen konnte, befindet sich noch auf der Flucht.

Der gesamte Prozess wird gefilmt, was normalerweise nicht gestattet ist, aber seit dem Tribunal 1987 gegen den SS-Mörder Klaus Barbie ausnahmsweise erlaubt wurde, weil es sich um »ein Verfahren von historischer Bedeutung« handelt.

Der Prozess zum Terroranschlag im gleichen Jahr, im November 2015, auf ein Konzert im »Bataclan« sowie auf Pariser Cafés soll Anfang kommenden Jahres beginnen und sechs Monate dauern.

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