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Wenn Reichelt Nebelkerzen wirft

Bildblog-Chef Moritz Tschermak über die Berichterstattung von »Bild« zu Solingen und Christian Drosten

  • Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 10 Min.

In Solingen hat eine Mutter mutmaßlich ihre fünf Kinder umgebracht und danach Suizidversuch unternommen. Ein sechstes Kind, der älteste Sohn, hat überlebt. Was macht »Bild«? Veröffentlicht Teile der Chatnachrichten dieses Jungen an einen Freund. In jeder anderen Redaktion würden vorher die Alarmglocken läuten. Warum veröffentlicht »Bild« etwas, was wahrscheinlich 95 Prozent der anderen Redaktionen ablehnen würden?

Das ist eine gute Frage, die ich mir in diesem Fall, aber auch immer wieder bei unserer Arbeit beim Bildblog stelle: Warum machen die das? Das ist wie eine Blackbox, in die wir schauen und bei der wir uns fragen: Wie ist denn diese Geschichte schon wieder zu Stande gekommen? Oder wie in dem Fall von Solingen: Warum hat da keiner interveniert?

Ich kann mir nur zwei Szenarien vorstellen, wie es zur Veröffentlichung der Chatnachrichten kam. Entweder fanden das in der »Bild«-Redaktion alle gut und in Ordnung, weshalb es dann eben zustande kam. Oder es gibt tatsächlich Leute, die so etwas nicht in Ordnung finden und die auch Zweifel haben. Aber die scheinen entweder kein Gehör zu finden oder sie trauen sich nicht, etwas zu sagen. Egal, welche Variante es nun ist, es ist ein fatales Bild, das die Redaktion da abgibt.

Es gab viel Kritik an der Berichterstattung. Beispielsweise sprach NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP) von »verantwortungslosem Journalismus«. Könnte es ausnahmsweise so sein, dass »Bild« überspannt hat und nachhaltig in irgendeiner Form Schaden an der Geschichte nimmt? Oder ist das in ein paar Wochen wieder vergessen?

Auch wir beim Bildblog haben die Hoffnung, dass sich irgendwann, wenn der Fehler oder der Lapsus oder die Schrecklichkeit groß genug ist, die sich »Bild« geleistet hat, dass sich dann irgendwann etwas ändert, vielleicht auch aus der Redaktion heraus.

Ich habe »Bild«-Chefredakteur Julian Reichelt im Deutschlandfunk in einem Interview zur Kritik an der Berichterstattung seiner Redaktion gehört. Das klingt alles eher nach Ablenkungsmanöver und Nebelkerzen und nicht nach einer ernsthaften Entschuldigung. Daher habe ich wahrlich Zweifel, dass sich jetzt wirklich etwas Grundlegendes bei »Bild« ändert.

In den vergangenen Jahre haben wir im Bildblog viele heftige Fehler, üble Kampagnen der Redaktion, Persönlichkeitsrechtsverletzungen aller Art dokumentiert. Auch da hat sich dann, egal wie groß der Druck von Außen war, egal wie groß die Empörung war, eigentlich nicht viel geändert. Letztlich wird es immer schlimmer, wie jetzt eben die Berichterstattung aus Solingen zeigt.

Ist das von »Bild« nicht auch durchaus kalkuliert, immer wieder diese journalistischen Tabubrüche zu begehen, um damit Aufmerksamkeit zu generieren?

Klar. Das ist natürlich auch ein Problem unserer Arbeit: Dass wir mit unserer Kritik, die wir auch ständig hinterfragen und die wir daraufhin abklopfen, das Schlimme, das in »Bild« oder bei Bild.de passiert, noch einmal größer machen. Manchmal scheint es auch gewollt von »Bild«, dass Kritik, dass Gegenwind kommt. Ich glaube, da gibt es ständig Fälle, wo es kalkulierte Tabubrüche gibt. Im Fall von Solingen habe ich aber das Gefühl, dass da tatsächlich eine schlicht grundlegend falsche Einschätzung der Redaktion vorlag, wie das Ganze ankommen wird. Damit hat man, glaube ich, nicht gerechnet.

Es gibt eine interne Nachricht von Reichelt an die »Bild«-Belegschaft, in der er die Reaktionen auf diesen Bild.de-Bericht kommentiert und versucht, irgendwie einzufangen. Er schreibt, dass der »blanke Hass« vieles übersteige, »was wir bisher kannten«. Ich glaube, in diesem Fall ist es tatsächlich so, dass das nicht einkalkuliert war.

Jetzt wird sich auch der Presserat mit dieser Geschichte beschäftigen. Es gibt dutzende Beschwerden gegen »Bild«. Vermutlich wird am Ende auch eine Rüge rauskommen, aber das ist im Grunde nur eine formale Sanktion und kein wirklich scharfes Schwert. Reicht so etwas in solchen drastischen Fällen wie Solingen aus?

Grundsätzlich finde ich es erst einmal gut, dass der Presserat sich damit beschäftigt. Und ich fände es gut, wenn es eine Rüge geben sollte, und wenn »Bild« dann auch der Selbstverpflichtung nachkäme, diese Rüge zu veröffentlichen, sie aber vielleicht nicht irgendwo zwischen einer Meldung über ein entlaufenes Nilpferd und einem Bericht über eine zusammengestürzte Hüpfburg versteckt, sondern prominent platziert. Das wird aber vermutlich nicht passieren.

Es ist kein Geheimnis, dass die Entscheidungen des Presserats, sei es eine Rüge, eine Missbilligung oder ein Hinweis, kein scharfes Schwert sind. Selbst wenn es eine Rüge gibt und »Bild« die nicht abdruckt, interessiert das am Ende niemanden. Es hat keine Konsequenzen. Natürlich sitzt man da dann ein bisschen verzweifelt davor und denkt, eigentlich müsste doch mal etwas anderes passieren.

Auf der anderen Seite geht es hier natürlich um ein sehr wichtiges, sehr wertvolles Gut: Nämlich die Pressefreiheit, die man jetzt auch nicht so einfach antasten sollte. Dementsprechend bin ich vorsichtig mit Forderungen nach weiteren oder schärferen Sanktionen. Ich würde eigentlich am liebsten immer noch darauf setzen, dass eine Veränderung aus den Redaktionen selber, in dem Fall eben aus der »Bild«-Redaktion, kommt. Ich gebe allerdings zu, das könnte – auch mit Blick auf die vergangenen Jahre unsere Bildblog-Arbeit – etwas naiv sein.

Haben Sie beobachtet, ob sich die »Bild«-Berichterstattung zu Solingen nach der scharfen Kritik geändert hat? Der betreffende Texte wurde immerhin gelöscht.

Diese Löschung an sich ist schon ein ganz bedeutendes Ereignis in Bezug auf die »Bild«-Redaktion. Ich kann mich nicht an besonders viele solcher Fälle erinnern, wo »Bild«, ohne vorher etwa eine einstweilige Verfügung erhalten zu haben, schon mal mehr oder weniger freiwillig einen Artikel komplett gelöscht hat. Das kommt vielleicht alle drei, vier Jahre vor. Das ist ein ganz bemerkenswerter Schritt.

Mein Gefühl ist schon, dass die Berichterstattung über Solingen abgenommen hat. Ich glaube aber nicht unbedingt, dass das auf die Kritik zurückzuführen ist, sondern einfach auf die Art und Weise wie das Nachrichtengeschäft gestrickt ist. Es ziehen dann die Redaktionen einfach weiter zum nächsten Thema, wenn das eine Thema abgefrühstückt ist.

»Bild« ist dafür bekannt, dass sie Menschen hoch-, aber auch runterschreibt. Der letzte prominente Fall war der von Charité-Professor Christian Drosten. Er hat sich geweigert, eine Anfrage der »Bild« innerhalb von nur einer Stunde zu beantworten und machte dies auch via Twitter öffentlich. Daraufhin gab es mehrere negative Texte über Drosten. War das aus Ihrer Sicht noch sachliche Kritik an seiner Wissenschaft oder eine gezielte Kampagne, weil Drosten nicht mit »Bild« zusammenarbeiten wollte?

Aus meiner Sicht war es eine klare Kampagne, die zeitlich allerdings schon früher entstanden ist. Wir hatten dazu bei uns im Bildblog bereits vorher einen längeren Artikel, in dem wir aufzeigen konnten, dass »Bild« mit verschiedensten schmutzigen Mitteln eine Kampagne gegen Christian Drosten fährt.

Tatsächlich gab es in der Berichterstattung eine Art Wechsel. Als zu Beginn der Corona-Pandemie klar wurde, wir haben einen wie Drosten in Deutschland, einen ausgewiesenen Experten, da hat »Bild« recht positiv über ihn berichtet. Das ist aber relativ schnell umgeschlagen. Man kann nur mutmaßen, warum das so war. Eine Lesart ist, dass es vielleicht gar nicht so sehr um Drosten geht, sondern eher um Angela Merkel, die schon seit geraumer Zeit ein Feindbild der »Bild«-Redaktion darstellt. Durch Drostens beratende Funktion für die Bundesregierung in der aktuellen Krise ist er dann ins Schussfeld der »Bild«-Redaktion geraten. Aber, wie gesagt: Das ist Spekulation.

Ich habe den Eindruck, »Bild« hat zu Beginn der Coronakrise zunächst wohlwollend über die Politik der Bundesregierung berichtet, was zum Sommer hin dann gekippt ist. Haben Sie diese Beobachtung auch gemacht?

Ja, durchaus. Da gibt es Umschwünge. Wie die zu erklären sind, ist von außen allerdings nur zu erahnen.

Es gibt in der Corona-Berichterstattung der »Bild«-Redaktion einige interessante politische Personalien, beispielsweise Gesundheitsminister Jens Spahn. Vor Corona war er schon lange ein großer Liebling von »Bild«. Derzeit durchlebt er eher wellenförmige Schwankungen, was die positive und negative Berichterstattung über ihn angeht. Das sind aus unserer medienkritischen Sicht ganz aufregende Zeiten.

Spielt vielleicht die Frage der Kanzlerkandidatur bei der Union eine Rolle? Versucht »Bild« da mitzumischen?

Ich vermute ja. Es wäre sehr ungewöhnlich, wenn »Bild« nicht versuchen würde, bei der Wahl zum CDU-Vorsitz und damit verbunden auch bei der Kanzlerkandidatur der Union mitzumischen. Wir haben bei früheren Personalentscheidungen bereits gesehen, dass man sich klar auf eine Seite schlägt. Das eindeutige Favorisieren von Friedrich Merz zum Beispiel bei der vergangenen Wahl zum CDU-Vorsitz, was dann am Ende nicht geklappt hat. Diese Kampagne der »Bild«-Redaktion war ohne Schwierigkeiten zu erkennen.

Noch einmal grundsätzlicher auf die Corona-Berichterstattung bezogen: Boulevardmedien sind auf Verkürzungen und Zuspitzungen angewiesen, weil es eben Boulevardmedien sind, die keine langen Essays oder komplexen Beiträge veröffentlichen. Kann ein Medium wie »Bild« überhaupt so ein komplexes Thema wie Corona adäquat abbilden oder scheitert es nicht schon an seiner Form?

Wenn eine Boulevardredaktion am Ende bei ihren normalen Mechanismen bleiben will, die eben auf einer Zuspitzung und einer extremen Personalisierung von Geschichten basieren, dann würde ich sagen, dass das einem derart wichtigen gesellschaftlichen Thema wie Corona sicherlich nicht gerecht wird.

Für mich scheint es so, dass die »Bild«-Redaktion kein großes Interesse daran hat, wie Wissenschaft funktioniert. Also dass Virologen wie Drosten und sein Team beispielsweise Papers veröffentlichen, die noch nicht reviewed sind und die eben nicht den allerletzten Stand der Forschung darstellen. Was es sowieso fast nicht gibt, weil sich Wissenschaft permanent weiterentwickelt, und immer wieder neue Erkenntnisse dazukommen.

Eine Kritik von »Bild« an Drosten basierte hauptsächlich auf Widersprüchen aus der Wissenschafts-Community, in der Widerspruch allerdings ein ganz normaler Vorgang ist. »Bild« konstruierte daraus einen großen Skandal. Das kann eigentlich nur bedeuten, dass man entweder gar nicht versteht, wie Wissenschaft funktioniert, oder es gar nicht verstehen will, weil es dann doch eher um die Zuspitzung und den Skandal geht und nicht so sehr um die Sache. [Anm.d.Red.: Nach dem Interview hat der Deutsche Presserat am Freitag in der Sache eine Rüge gegen »Bild« ausgesprochen.]

Seit einiger Zeit baut »Bild« seine Aktivitäten im Videobereich aus. Es gibt seit ein paar Monaten »Bild TV«, das als Nachrichtenkanal etabliert werden soll. Müssen wir uns darauf einstellen, dass dieser Sender, auch um sich von der Konkurrenz abzuheben, besonders aggressiv auftritt?

Ich hatte schon bei der Ankündigung dieses Projekts die Befürchtung, dass es eine unheilvolle Allianz zwischen der immer wieder sehr schlechten »Bild«-Recherche und dem Druck einer Live-Fernsehsituation geben wird.

Bei Bild.de zum Beispiel gibt es diesen Druck nicht unbedingt. Da geht ein Artikel online, wenn er fertig ist. In einer Live-Situation gibt es dagegen einen Zwang, etwas zu erzählen und zu zeigen. Das hat schon mehrfach zu hochproblematischen Situationen geführt. Ich erinnere mich etwa an die Anschläge in Hanau, als »Bild« relativ früh vor Ort war und von dort live gesendet hat. Da wurde dann hauptsächlich darüber gemutmaßt, ob hinter der Tat das Drogenmilieu oder Russen stecken könnten. Dazu kommt es natürlich, weil die Reporter vor Ort irgendwas erzählen müssen, irgendwas aufgeschnappt haben und das ungefiltert weitergeben.

Am Ende stellt sich raus: Das waren nicht Russen, und es hatte auch nichts mit einem Drogenmilieu zu tun. Das war ein Anschlag eines Rassisten. Ich glaube, das ist eine der großen Problematiken dieses »Bild TV«-Vorhabens: Eine Redaktion, die wahrlich nicht bekannt dafür ist, seriösen Journalismus zu betreiben, in eine Situation zu stecken, in der sie dauernd etwas zeigen und erzählen muss. Da kann am Ende nichts Brauchbares rauskommen.

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