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Big Tech: Bedrohung für die globale Ökonomie
Hinter dem Boom der Digitalwirtschaft steckt letztlich eine Profitabilitätskrise des globalen Kapitalismus
In ihren vorzeitigen Memoiren »Abolish Silicon Valley« wundert sich die Autorin Wendy Liu im Rückblick über ihr Bedürfnis, 60 bis 80 Stunden in der Woche für ihr Start-Up zu arbeiten, um »den Zwang zur herkömmlichen Arbeit zu überwinden«. Obwohl sie und ihre Mitstreiter praktisch kein Geld verdienten, winkte die Aussicht auf ein acqui-hire (Neologismus aus »acquisition« and »hiring«) in Millionenhöhe, wenn sie denn nur gut genug »performen«. Ihr Start-Up war sich zwar nie wirklich im Klaren darüber, was sie eigentlich produzierten, aber Szenegrößen wie Peter Thiel und Elon Musk haben es ja auch aus der Garage in die Milliardärs-Klasse geschafft.
Was Liu hier beschreibt - der Wunsch für außerordentlich harte Arbeit über alle Maßen belohnt zu werden, verbunden mit der Verachtung für Menschen, die es nicht ausdauernd genug versuchen - ist ein strukturelles Problem in dem Sektor, der abwechselnd Big Tech, Digitalwirtschaft oder Plattformkapitalismus genannt wird. Dabei lässt sich dieser Sektor tatsächlich nur vage umschreiben als ein Geschäftsmodell, das IT, Daten und/oder Internet enthält, verbunden mit dem Versprechen, dadurch flexibler, smarter, disruptiver und intelligenter produzieren zu können. Dahinter steckt, wie eine genauere Analyse zeigt, eine Profitabilitätskrise des globalen Kapitalismus, die nach 2008 noch an Fahrt aufgenommen hat.
Erstmals virulent wurde der »techlash« - so heißt die Kritik an der Vorherrschaft der Technologiekonzerne und der ungetrübte Glaube an deren positive gesellschaftliche Funktion - mit den Snowden-Enthüllungen im Jahre 2013. Im Fokus stehen seitdem der Datenschutz, der Schutz der Privatsphäre vor in erster Linie staatlichen Akteuren und spätestens seit dem Cambridge-Analytica-Skandal auch die zweifelhafte Rolle von sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter im demokratischen Prozess.
Die 2018 in Kraft getretene europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) war die erste Antwort der europäischen Politik, um den weltweiten Datenfluss zu regulieren. Die Relevanz von Datenschutz bleibt jedoch weiterhin nicht nur schwer zu vermitteln, sondern ist auch auf der individuellen Ebene praktisch nicht durchsetzbar. Es ist an der Zeit, die Analyse von Big Tech und Plattformkapitalismus auch auf das ökonomische Feld auszudehnen, um zu verstehen, welcher strukturelle Wandel sich hier vollzieht und was dies für Arbeitnehmer*innen und Gesellschaft bedeutet.
Schon in der sogenannten Dotcom-Blase zwischen 1995 und 2000 zeigte sich der Trend zur Monopolbildung in der Digitalwirtschaft, deren hohen Rendite-Versprechen damals 256 Milliarden US-Dollar Finanzkapital anlockte. Die Renditen aus der Realwirtschaft waren nicht mehr attraktiv genug für die internationalen Anlagefonds. Diese Tendenz verstärkte sich erneut nach der Finanzkrise im Jahre 2008. Die Zentralbanken befeuerten durch ihre Niedrigzinspolitik die Jagd nach lukrativeren Anlagen, denn die Zinsen sanken in den Monate nach dem Crash von 5 Prozent auf 0,5 Prozent. Auch die quantitative Lockerung sorgte für wachsende Nachfrage nach riskanteren Anlageformen.
Ein weiterer Grund für die Attraktivität der Digitalwirtschaft ist die Tatsache, dass sich deren Vermögenswerte schneller verschieben lassen und damit Steuerflucht vereinfachen. So lagern der US-amerikanischen Börsenaufsichtsbehörde zufolge 92,8 Prozent (200 Milliarden US-Dollar) der Kapitalreserven von Apple im Ausland. Bei Microsoft waren es 93,9 Prozent (96,3 Milliarden Dollar) gefolgt von Google mit 58,7 Prozent (42,9 Milliarden Dollar). Auch Amazon und Facebook finden sich weit oben auf der Liste (Stand 2016).
»Der wachsende Anteil der Einnahmen aus Finanzinvestitionen und damit der Rückgang der Einnahmen, die unmittelbar aus dem Verkauf von Arbeitsprodukten wie Autos, Sportartikeln oder dergleichen gewonnen wurden, kann als Verschiebung der bargaining power gewertet werden, als eine Veränderung des Gewichts, das in Lohnverhandlungen geltend gemacht werden konnte«, konstatiert der Philosoph und Soziologe Aaron Sahr in seinem Buch »Keystroke-Kapitalismus«. »Durch den Finanzialisierungsprozess werden somit einige wenige Topverdiener aufgewertet und die Mehrheit der Beschäftigten abgewertet.«
Kein Wunder, dass Wendy Liu sich schon früh in ihrem Leben instinktiv nach einem C-Level Posten umgesehen hat. Bei ihren Besuchen im San Francisco der 2010er Jahre bemerkte sie jedoch schnell die krasse Ungleichheit der Einkommensverteilung. Die Fahrer*innen, die sie morgens im Shuttle zum Google Campus fuhren, die Gärtner*innen und Service-Mitarbeiter*innen wirkten gar nicht so hip und zufrieden wie ihre Programmierer-Kolleg*innen. Aber sie gehörten ja auch nicht wirklich zur Google-Familie. In der Digitalwirtschaft müssen niedrig qualifizierte Arbeitnehmer*innen nicht gut entlohnt werden.
Ein Blick in den Jahresreport des Konzern Takeaway.com zeigt, wie das Geschäftsmodell eines Plattform-Unternehmens aussieht. Takeaway.com - in Deutschland derzeit mit dem Markennamen Lieferando präsent - dominiert nach dem Ausstieg des Anbieters Deliveroo den deutschen Markt für die Online-Lieferung von Essen. Sie aquirierten die Marken Lieferheld, Pizza.de und Foodora und setzten im Geschäftsjahr 2019 1,45 Milliarden Euro Bruttowarenvolumen um. Das entspricht einem Bruttoumsatz von 211 Millionen Euro. Das bemerkenswerte daran ist, dass die meisten Kurierfahrer gar nicht für Lieferando arbeiten, sondern von den teilnehmenden Restaurants bezahlt werden. Takeaway.com macht sein Geld also durch die Bereitstellung der Online-Plattform, Marketing, PR, Management und Support. Die Plattform muss dabei permanent vor den Mitbewerbern geschützt werden, was u.a. durch die aggressive Übernahmepolitik, Quersubventionierung und die Ausnutzung des Netzwerkeffekts geschieht.
Der sogenannte Netzwerkeffekt ist eine Eigenheit von Online-Plattformen: Je mehr User*innen eine Plattform benutzen, desto attraktiver wird sie für alle anderen User*innen. Um den Markt zu dominieren, sind Konzerne wie Takeaway.com bereit, jahrzehntelang Verluste einzufahren. Nach eigenen Angaben wurde das Geschäft in Deutschland im Jahre 2019 zum ersten mal profitabel - fünf Jahre nach Markteinführung.
Das Beispiel Takeaway.com soll hier demonstrieren, wie sehr Plattform-Unternehmen von Finanzierungsspritzen abhängig sind und wie wenig der Großteil der Arbeitnehmer*innen an dem Erfolg der Unternehmen profitiert. Durch die Erhebung der Daten aus jeder Transaktion sowie der Tracking-Daten der Lieferfahrer*innen und ähnlicher relevanter Vorgänge, kann Takeaway.com seine Monopolstellung immer weiter ausbauen. Im Fachjargon heißt das: Extraktives Minimum - die Kontrolle über die Plattform ist ausreichend, um die Monopolrente abzuschöpfen.
Die meisten Unternehmen der Digitalwirtschaft sind in der einen oder anderen Form Plattform-Anbieter, d.h. die zentralen Quellen der Geschäftstätigkeit sind das Trainieren von Algorithmen, die Auslagerung von Arbeitskräften, die Optimierung von Produktionsprozessen und das Generieren neuer Daten - zum Ausbau der Marktstellung. Ob es nun Werbeplattformen wie Google oder Facebook sind - beide beziehen mehr als 89 Prozent ihrer Einnahmen aus (Online-)Werbung -, Cloud-Plattformen wie Amazon Web Services - die das Rückgrat der weltweiten digitalen Infrastruktur bilden - , oder Industrieplattformen, die innerbetriebliche Prozesse optimieren, die grundlegenden Mechanismen sind dieselben. Die in der Berichterstattung dominierenden Service-Anbieter Uber, AirBnb oder Lieferando zählen dabei zu den schlanken Plattformen, da sie i.d.R. kein eigenes Produkt anbieten und selbst Computing und Hosting zu Cloud-Plattformen auslagern.
In der Summe erscheint der Plattformkapitalismus weniger als Wiederbelebung der Wirtschaft, sondern vielmehr als eine Form des jobless recovery - beschäftigungsfreies Wachstum - der einen großen informellen Arbeitsmarkt geschaffen hat. Gerade schlanke Plattformen sind in erster Linie für Venture-Kapital interessant, da sie kurzfristig eine attraktive Performanz bieten.
Dabei ist es keineswegs eine historische Notwendigkeit, dass technologische Innovation in einem so hohen Maße mit Spekulationen auf dem Finanzmarkt und sinkenden Löhnen bei den Arbeitnehmer*innen verbunden ist. In einem Strategiepapier haben wir bei DiEM25 einen ganzen Strauß an Politikvorschlägen gemacht, unter dem Titel »Technologische Souveränität - Demokratisierung von Technologie und Innovation«. Dabei setzen wir vor allem auf die Regulierung der Plattform-Unternehmen - durch weitergehenden Schutz der Bürger*innen vor Datenextraktion und einer verpflichtenden Interoperabilität zwischen verschiedenen Plattformen, ähnlich wie im Mobilfunkmarkt, um der Monopolbildung durch Netzwerkeffekte entgegenzuwirken. Außerdem plädieren wir für stärkere kartellrechtliche Bestimmungen, die bei Fusionen und Übernahmen die internationale Position eines Unternehmens berücksichtigt und nicht nur die Gewinne der jeweiligen nationalen Tochterfirmen. Denkbar wäre hier auch, dass ein Teil des privaten Datenschatzes veröffentlicht und dem Gemeinwohl verpflichteten Institutionen zur Verfügung gestellt wird. Weiterhin wollen wir Datengewerkschaften ins Gespräch bringen, das Modell der Plattform-Genossenschaften stärken und dafür sorgen, dass die private Aneignung von öffentlicher Forschung stärker eingeschränkt wird. Öffentliches Geld wird zu öffentlichem Code, wie es u.a. in der Freien-Software-Bewegung heißt.
Ich bin davon überzeugt, dass die Demokratisierung von technologischer Innovation ein wichtiger Beitrag zu einer solidarischeren Gesellschaft ist und nicht ausschließlich in die Hand von Venture-Kapital und Aktienbesitzer*innen gehört. Damit begabte junge Menschen wie Wendy Liu ihr umfangreiches Wissen und ihre hohe Einsatzbereitschaft nicht in einem Industriesektor vergeuden, der mit dreistelligen Milliardenbeträgen an der Optimierung des Online-Anzeigenmarktes arbeitet.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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