»Am Ende wird der Kapitalismus ein Treppenwitz gewesen sein«
Über den Wert wertloser Dinge wie ein Radiergummi oder eine Tüte Mandeln. Ein Gespräch mit Andreas Gehrlach
In der beliebten TV-Sendung »Bares für Rares« lassen Menschen den Wert ihres alten Trödels von einem Experten oder einer Expertin schätzen und versteigern anschließend den Gegenstand. Hat man Ihren Essay »Das verschachtelte Ich« gelesen, meint man, dass in diesem sehr konventionellen Fernsehformat auch ein Stückchen Utopie mit im Spiel ist.
Das ist zunächst einmal eine sehr persönliche Utopie. Der Gegenstand, der oftmals schon lange bei den Leuten herumstand, der ihnen vererbt wurde und vielleicht ein geheimnisumwittertes Familieneigentum ist, wird durch die Expertise plötzlich anerkannt, als besonders und bedeutungsvoll beschrieben. Dabei erfolgt immer auch die Übersetzung in den Geld- oder Tauschwert.
Andreas Gehrlach, Jahrgang 1981, ist Kulturwissenschaftler. Er arbeitet am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität Berlin. In seinem kürzlich bei Matthes & Seitz veröffentlichen Essaybuch »Das verschachtelte Ich« beschäftigt er sich mit Habseligkeiten, die an sich wertlos sind, aber für den Besitzer höchst kostbar. Wie der liebgewonnene Plastikkugelschreiber, den man im Rucksack mit sich herumträgt, der fast aufgebrauchte Lippenstift oder die Muschel, die man einst am Strand gefunden hat und die Glück bringen soll. Mit Gehrlach sprach Thomas Wagner.
Manchmal wird in der Sendung am Ende gar nicht verkauft, weil man sich nicht auf einen Preis einigen kann. Doch die Verkäufer gehen erhobenen Hauptes aus der Sendung, denn sie können ihr Eigentum auf eine neue Weise, intensivere Weise wertschätzen.
Man kann die Schätzung des Werts durch die Experten als einen Prozess beschreiben, in dem der individuelle Wert eines Objekts vor den Augen des Fernsehpublikums in den Tauschwert verwandelt wird. Es kann aber auch passieren, dass der individuelle Wert erhalten und der Tauschwert als zweite Möglichkeit daneben stehen bleibt. Vielleicht sind manche, die verkauft haben, ein paar Wochen später nicht mehr glücklich über ihre Entscheidung, da sie merken, dass der realisierte Tauschwert nicht dem entspricht, was sie emotional mit dem Gegenstand verbinden.
Ich könnte mir vorstellen, dass »Bares für Rares« auch in einer sozialistischen Gesellschaft funktionieren würde. Anders als beispielsweise eine Startup-Castingshow wie »Höhle der Löwen«. Denn es ist nicht der frei flottierende Kapitalismus, der dort zelebriert wird.
Dort überlagern sich ganz viele Formen, einen Gegenstand zu »haben«, auf ihn zuzugreifen und seine Wertigkeit zu bemessen. Darin zeigt sich, dass das Privateigentum kapitalistischer Form nicht so unumschränkt herrscht, wie wir zu glauben meinen. Stattdessen wird deutlich, dass Gegenstände auf ganz unterschiedliche Weise wertgeschätzt und besessen werden können. Hierin liegt tatsächlich ein utopisches Potenzial.
In der Theorie von Karl Marx gibt es die Unterscheidung zwischen Gebrauchswert und Tauschwert.
Hinter dem, was ich geschrieben habe, stehen eindeutig Überlegungen, die auf Marx’ Theorie zurückgehen: die Differenzierung zwischen Gebrauchswert und Tauschwert, aber auch die weniger bekannte zwischen privatem und personalem Eigentum. Unser Konzept des Privateigentums ist radikal. Wenn mir etwas gehört, dann ist es unsichtbar mit meinem Namen markiert. Ganz egal, ob das der alte Teddybär ist, den ich aus Kindertagen immer noch in meinem Bett habe, ein Stück Land in der Slowakei oder eine Aktie von einem Technologiekonzern in Südkorea. All das gehört mir auf die gleiche Weise. Dagegen setze ich die Auffassung, dass mir das Taschentuch, der Teddybär, mein Füller, mit dem ich jeden Tag arbeite oder das Smartphone, das mich mit meinen Liebsten verbindet, sehr viel intensiver gehört.
Ein Mann findet in der hintersten Ecke seiner Schreibtischschublade eine Schachtel mit einem Radiergummi, den ihm sein Lieblingsonkel zur Einschulung geschenkt hatte. Er erinnert sich daran, dass er das Ding damals sehr in Ehren gehalten hat.
Nach dreißig Jahren hat der spröde gewordene Radiergummi, der bröselt und schmiert, keinen Gebrauchswert oder Tauschwert mehr. Er hat aber das, was man ein wenig despektierlich als »sentimentalen Wert« bezeichnen kann. Es gibt dafür ein schönes Beispiel aus dem Roman »Die Schatzinsel« von Robert Louis Stevenson. In der Seemannskiste, die ein furchterregender Pirat hinterlässt, finden sich neben allerhand Erwartbarem und Nützlichem, das zu seinem Leben passt - Pistolen, gute Kleidung, Schatzkarte - ganz unten ein paar schöne, seltsam geformte Muschelschalen. Warum trägt der als gewaltbereit, souverän und finster gezeichnete Typ so etwas mit sich herum? Mit geht es um dieses Rätsel.
Ihr Buch zeigt einerseits, dass auch in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht alles restlos in der Verwertungslogik aufgeht. Zum anderen ist es ein Beitrag zur philosophischen Anthropologie, in dem der Mensch als ein Taschen tragendes Wesen bestimmt wird.
Ich glaube, dass es ganz wesentlich ist, sich klarzumachen, von welchem Menschenbild die eigenen Annahmen und Überlegungen ausgehen. Eine philosophische oder auch historische Anthropologie, die aber nichts Endgültiges, ein für alle mal Feststehendes über den Menschen behaupten will, kann dabei helfen. Die Vorgehensweise in meinem Essay ist zu sagen: »Hör mir mal kurz zu und versuche ein paar Minuten lang, meinem Gedankengang zu folgen.« Dabei geht es mir nicht so sehr um die Tiefe und Belastbarkeit der Argumente, sondern um einen spielerischen, manchmal sogar ein bisschen schelmischen Umgang mit Perspektiven. Denn es ist genauso wichtig, eine fröhliche Wissenschaft zu betreiben wie eine wahre.
Ich lade die Leserinnen und Leser dazu ein, das Experiment zu wagen, den Menschen anders zu fassen, als wir es gewöhnlich tun. Was ist, wenn der Mensch - anders als Thomas Hobbes meinte - kein Wesen ist, das Herrschaft braucht, oder - wie weite Teile der Aufklärung dachten - die Mehrung von Eigentum anstrebt?
Das gängige Bild, das wir von der Steinzeit haben, zeigt Männer, die in Höhlen leben und ihre Konflikte mit der Keule in der Hand lösen.
Im Grunde würde sich das, was wir an Material aus dieser Zeit gefunden haben, in einem größeren Anhänger irgendwohin transportieren lassen. Aus diesen paar Knochen, steinernen Pfeilspitzen und ähnlichem rekonstruieren wir eine ganze Welt. Wir müssen eingestehen, dass wir über diese Zeit sehr wenig wissen und dieses Material auch anders interpretieren könnten. Wir bezeichnen diese Geschichtsperiode als Steinzeit, weil wir viele Steine gefunden haben. Dabei übersehen wir, dass noch ganze andere Dinge wichtig gewesen sind als Speerspitzen, Beilköpfe oder sonstige Gegenstände, die als Waffen benutzt wurden. Mit einer ebenso großen Wahrscheinlichkeit wurden Körbe, Taschen und Armbänder benutzt. Wenn diese Gegenstände erhalten geblieben wären, würde man vielleicht von einer Korb- oder Lederzeit sprechen. Die Schriftstellerin Ursula K. Le Guin hat auf wenigen Seiten eine Tragetaschentheorie der Fiktion entwickelt, in der sie bekennt, keinen Bock mehr auf Geschichten zu haben, die von Typen berichten, die mit harten und spitzen Gegenständen um sich schlagen. Stattdessen will sie vom Tragen, Sammeln, Aufbewahren und Behalten erzählen. Im Unterschied zu den geläufigen Heldenerzählungen gibt es auf diesem Gebiet noch viel zu entdecken.
Tatsächlich kann man vermuten, dass damals nicht der blutige Kampf das bevorzugte Mittel war, um Konflikte zu lösen, sondern das Sich-aus-dem-Weg-gehen. Das legen zumindest ethnologische Schriften über Gesellschaften nahe, in denen es keinen Staat und kein Gerichtswesen.
Wir wissen zwar nicht, wie Konflikte vor 200 000 Jahren gelöst wurden, aber die Geschichte, dass man einfach wegging, hat eine mindestens genauso große Plausibilität, wie die, dass man mit Keulen aufeinander einschlug. Bei Sigmund Freud gibt es die Erzählung von der Urhorde, in der ein tyrannischer Vater irgendwann von den Söhnen erschlagen und verspeist wird. Man könnte die Geschichte auch so erzählen, dass die des autoritären Alten überdrüssig gewordenen Söhne und Töchter einfach gemeinsam fortgehen. Dann ist nicht mehr wichtig, welche Gegenstände zum Totschlagen taugen, sondern welche für das Weggehen nützlich sind - zum Beispiel tragbare Behälter.
Um herrschaftslose Gesellschaften geht es auch in dem Buch »Staatsfeinde« des französischen Ethnologen Pierre Clastres. Sie haben die klassische Studie aus den Siebzigerjahren gemeinsam mit Ihrem Kollegen Morten Paul jüngst neu herausgegeben. Gibt es darin Parallelen zu Ihrer eigenen Arbeit?
Pierre Clastres hat vor dem Hintergrund ethnografischer Studien bezweifelt, dass wir so etwas wie Herrschaft oder den Staat überhaupt benötigen. Die Institutionen, die das Privateigentum schützen - der Staat, die Polizei, die Gefängnisse - sind in der Geschichte der Gattung Mensch im Grunde sehr neue Erfindungen, von denen die allermeisten Menschen wegen ihrer Gewalt, Radikalität und Ungerechtigkeit schockiert gewesen wären. Ich schüre in meinem Essay den Zweifel, dass wir so etwas wie das kapitalistische Eigentum brauchen. Die Menschen waren über Jahrhunderttausende hinweg auf der ganzen Welt eher »Taschen tragende« als »Privateigentum besitzende« Wesen. Sie haben gesammelt und gejagt und waren zufrieden damit, in einer Hütte zu liegen und nur einen Beutel voller Dinge zu haben.
Es ist ja auch gar nicht möglich, unbegrenzt zu konsumieren.
Man kann den Zusammenhang mit dem betriebswirtschaftlichen Begriff des »abnehmenden Grenznutzens« veranschaulichen. Wenn mir meine Mama auf dem Jahrmarkt eine Tüte gebrannte Mandeln kauft, habe ich daran einen großen Nutzen, weil sie ein großes Begehren erfüllt. Das mag auch bei der zweiten Tüte noch sein. Spätestens mit der dritten oder vierten ist dann aber der Grenzen des Nutzens erreicht. Ich denke, dass dieser Grenznutzen für viele Dinge, die wir brauchen, sehr schnell erreicht ist. Jeder Mensch kann nur in einem Bett schlafen, von einem Teller essen, in einer Wohnung wohnen.
Wer mehr besitzt, als er selbst benötigt, kommt in Versuchung, sein Eigentum zu nutzen, um mehr Macht und Einfluss zu gewinnen.
Je mehr ich von dem besitze, was ich persönlich gar nicht mehr gebrauchen kann, desto mehr besteht dieses Eigentum in nichts anderem als meinem Recht, den anderen den Gebrauch davon zu verwehren. An dieser Stelle wird Eigentum zu einer reinen Machtfrage. Eine Ferienwohnung, in der man nie ist, gehört einem auf dem Papier, aber tatsächlich tut sie das nicht. Ähnlich verhält es sich mit dem Waldgrundstück, das jemand von seinem Opa geerbt, aber nie gesehen hat. Es gehört ihm viel weniger als den Leuten, die dort aufgewachsen sind, Beeren und Pilze sammeln oder Hütten bauen. Ihre Nähe zu dem Stück Land ist viel größer als der Sachverhalt, dass irgendein Name auf dem Katasteramt auf einem Stück Papier dokumentiert wurde. Ich argumentiere an dieser Stelle eher ethisch als politisch.
Das tun die liberalen Verteidiger des Privateigentums auch.
Dabei übersehen sie, dass der Kapitalismus ein schreiendes Unrecht ist. Wenn so viel Leid über die Menschheit gebracht wird, ist das moralisch nicht zu verteidigen. Bertolt Brecht hat einmal gesagt, dass nicht er radikal ist, sondern die Welt, der er widerspricht. Dem würde ich zustimmen. Unsere Gesellschafts- und Eigentumsformen sind historisch und global gesehen die Ausnahme. Nimmt man die Menschheitsgeschichte in den Blick, so wird der Kapitalismus am Ende nichts als ein Treppenwitz gewesen sein.
In Ihrem Essay konzentrieren Sie sich auf Individualeigentum, das in Behältnissen von der Tasche bis zum privaten Zimmer aufbewahrt werden kann. Daneben beschreiben Sie ein universelles Eigentum, das in Archiven, Bibliotheken oder Museen allen Interessierten zugänglich gemacht wird. Ausgespart bleiben jene Räume, die zwar einer Gruppe von Menschen gemeinsam sind, aber nicht universell genutzt werden können: die im Flur der Familienwohnung aufgehängten Buntstiftbilder des Jüngsten oder die Toilette in der Wohngemeinschaft mit dem Stapel Comics oder Zeitschriften. Ich sehe hier eine Lücke in Ihrer Theorie.
Das ist eindeutig so. Man müsste da unbedingt noch Zwischenstufen einbauen. Ich skizziere meine Theorie in ganz groben Strichen und zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite steht das individuelle, hoch intime, fast körperliche Eigentum, auf der anderen Seite das universale Gemeineigentum. Dazwischen aber gibt es Formen gemeinschaftlich bestehenden Eigentums, die unter dem Radar einer kapitalistischen Privateigentumsmanie in eigenen Räumen zu verorten sind. Sie sind Behälter, in dem man seine Taschen abstellt, wenn man von draußen kommt. In der WG-Küche finden die besten Momente von Partys statt, und man trifft morgens zum Kaffee zusammen. Auch dort gibt es ein Gefühl des Aufgehobenseins, das ich für unheimlich wichtig halte.
Andreas Gehrlach: Das verschachtelte Ich. Individualräume des Eigentums. Matthes & Seitz, 159 S., brosch., 12 €. Pierre Clastres: Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie (mit einem Nachwort von Andreas Gehrlach und Morten Paul). Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Konstanz University Press, 206 S., geb., 24 €.Das »nd« bleibt gefährdet
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