Pubertät unter Monstern
»Jurassic World« macht aus der digital-analogen Filmreihe ein voll animiertes Stück Jugendfernsehen
Computergrafik im Film galt, Kenner wissen das, schon 1977 als Goldstandard des künftigen Kinos. Bereits beim ersten Großeinsatz in »Star Wars«, hatte CGI (Computer Generated Imagery) die Fiktion so grundlegend verändert wie zuvor der Ton- und Farbfilm. Einen Höhepunkt erlebte die dreidimensionale Digitaltechnik 16 Jahre nach dem »Krieg der Sterne« , als realistisch animierte Dinosaurier durch den analog errichteten »Jurassic Park« liefen - was auch deshalb so grandios aussah, da die Schauspieler nicht aus Einsen und Nullen, sondern Fleisch und Blut bestanden.
Aus diesem schwer erkennbaren, leicht spürbaren Kontrast zwischen Mensch und Maschine beziehen die filmisch auferstandenen Urviecher seit jeher ihre Faszination. Und es ist entsprechend auch dieser Kontrast, der dem sechsten Spin-Off des prähistorischen Themas nun zum Mitreißen fehlt. Trotz allem. Eigentlich hat »Jurassic World. Camp Cretaceous«, so heißt die Fortsetzungsserie bei Netflix, nämlich das, was gewinnbringende Ausschlachtungen erfolgreicher Formate brauchen: sechs grundverschiedene Hauptfiguren für sechs entsprechende Zielgruppen.
Der Nerd Darius und die Influencerin Brooklynn, der Schnösel Kenji und die Einzelgängerin Yaz, der Kauz Ben und die Mitläuferin Sammy dürfen den neu eröffneten Dino-Vergnügungspark auf einer Tropeninsel besuchen, um unter Anleitung der Ranger Roxie und Dave zu testen, ob er der Zielgruppe, Teenagern, gefällt. Wie seit 1993 üblich, dringen fortan auch diese Hauptfiguren mit jeder Folge tiefer in eine genmanipulierte Flora und Fauna vor und geraten die künstlichen Raubtiere darin zusehends außer Kontrolle. Anders als sonst jedoch sind nicht nur die schrecklichen Geschöpfe am Rechner entstanden, sondern deren Schöpfer, die verrückten, profitsüchtigen Wissenschaftler, gleich mit. Während sämtliche Dinosaurier allerdings bis hin zum Sabberfaden im zuschnappenden Maul bis zur Perfektion des algorithmisch Möglichen computeranimiert wurden, bleibt alles vermeintlich Menschliche ohne Falten, Tiefe und Makel.
Glaubhafte Utopien, ganz gleich, wie abwegig sie sind, beruhen aber nun einmal auf dem Prinzip Empathie - sonst werden sie zu selbstreferenziellem Trash. Um beim Publikum wirklich etwas auszulösen, muss man ihm demnach die Chance geben, sich in die denkbare Welt und ihre Protagonisten hineinzuversetzen: Im futuristischen Kreidezeit-Camp aber gelingt das zu keiner Sekunde. Leider. Denn mit seiner Idee, Jugendlichen unter Monstern beim Wachsen zuzusehen, hat Showrunner Zack Stentz - in dessen Zukunftsvision »Rim of the World« schon mal Kinder die Hauptrolle hatten - eigentlich alles für gefühlvolles Fernsehen vorbereitet. Produziert vom Familienkino-Veteran Steven Spielberg, verhandelt das ungleiche Teenie-Sextett schließlich permanent die drei pubertären Kernfragen: Wie liebe ich mich selber? Wie schaffe ich es, von anderen geliebt zu werden? Und wie erreiche ich beides, während das Private vollumfänglich der Öffentlichkeit preisgegeben wird? Wenn die Generation Smartphone also grad mal nicht vor entflohenen Dinos davonrennt, geht es um ihre Positionierung in einer Gesellschaft, der diese Positionierung längst alles bedeutet.
»Mädchen lieben halt große Gesten«, sagt der geltungssüchtige Kenji zum vorpubertären Darius, als er die Truppe mal wieder für ein bisschen Social-Media-Ruhm in Gefahr bringt, »das lernst du schon noch.« In dieser inhaltlich tiefgründigen, visuell oberflächlichen, manchmal tragischen, meist komischen Coming-of-Age-Serie allerdings dürfte Gleichaltrigen genau dies eher schwerfallen. Digitales Lernen ist zwar gerade schwer in Mode, für Gefühle eignet sich das Analoge dann aber doch ein wenig besser.
»Jurassic World« auf Netflix
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