Zwischen Lissabon und Moskau

Johny Pitts macht sich in »Afropäisch« auf die Suche nach den Töchtern und Söhnen des Dekolonialismus

  • Michael Götting
  • Lesedauer: 8 Min.

James Baldwin verglich In einem Essay aus den frühen 1950er Jahren das Verhältnis von Schwarzen und Weißen Menschen in den USA mit dem in Europa. Er kam zu dem Schluss, dass Schwarze Menschen anders als in den USA im Gewissen der Europäer abstrakt blieben - da sie sich weit entfernt in den Kolonien aufhielten. Baldwin schrieb, dass »der Schwarze als Mensch für Europa« im Grunde nicht existiere. Das hat sich (falls es überhaupt der Fall war) längst geändert: Etwa 15 Millionen Menschen afrikanischer Herkunft leben in der Europäischen Union. Zuletzt haben sie nach der Ermordung George Floyds bei den Demonstrationen in den Metropolen des Kontinents gegen Rassismus und Racial Profiling bei der Polizei auf sich aufmerksam gemacht.

Der britische Journalist und Schriftsteller Johny Pitts hat sich auf die Reise gemacht, um die Schwarzen Menschen in Europa zu suchen, ihre Lebensumstände kennenzulernen und zu verstehen, was sie verbindet. »Afropäisch« ist ein starkes Werk, das Pitts Weg und die Lebensumstände Schwarzer Menschen in Sheffield (wo Pitts aufgewachsen ist), London, Paris, Amsterdam, Brüssel, Berlin, Moskau, Stockholm, Marseille und Lissabon beschreibt. Europäische Denker*innen und Schriftsteller*innen afrikanischer Herkunft, in Europa lebende Afroamerikaner*innen und Afrikaner*innen haben seit Jahrhunderten geistige Traditionen des Schwarzen Europa geprägt, vor dem Kolonialismus, während des Kolonialismus und danach. Zu der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart dieser Traditionslinien gehören eben James Baldwin, der lange Zeit in Frankreich lebte, Claude McKay, ein Jamaikaner, der zu einem der einflussreichsten Protagonisten der sogenannten Harlem Renaissance in New York wurde, der in der Sowjetunion lebte, Europa bereiste und unter anderem einen Roman schrieb, der in Marseille spielt. Es gibt Richard Wright, Josephine Baker, Frantz Fanon, Aimé Césaire und Caryl Philipps, den britischen Schriftsteller, der mit seinem Werk »The European Tribe« etwas mehr als 30 Jahre vor Johny Pitts eine ähnliche afroeuropäische Reise über den »alten Kontinent« beschreibt.

Atlantische Verbindungslinien

Pitts verwebt Denken, Biografien und Werke seiner geistigen Vorreiter*innen mit den Erfahrungen der Menschen, die er auf seiner Tour in die Pariser Banlieues, den Brüsseler Bezirk Matongé und dessen Stockholmer und Lissabonner Entsprechungen Rinkeby und Cova da Moura - die Außenbezirke europäischer Metropolen, in denen so viele Schwarze Menschen leben - trifft. Dass Pitts als Gründer der Webseite Afropean.com dort bereits Perspektiven, Erfahrungen und geschichtliche Hintergründe des Lebens von Menschen afrikanischer Herkunft in Europa gesammelt hat, hilft ihm Kontakte zu knüpfen.

In Amsterdam trifft er die Aktivist*innen des New Urban Collectives und taucht tief ein in das Wissen der dortigen Black Archives. Erst stellt Hermina und Otto Huiswoud und deren Leben vor, das sie aus Surinam in das New York des frühen 20. Jahrhunderts führt, wo sie an der Gründung der Kommunistischen Partei in den USA beteiligt sind und die inspirierende Zeit der Harlem Renaissance erleben. Für die Huiswouds geht es dann nach Amsterdam, wo sie surinamesische Einwander*innen politisierten - man erinnert sich an Paul Gilroys »The Black Atlantic«: ein Werk aus den 1990er Jahren. Gilroy war ebenfalls ein Brite, der im Atlantik die Verbindung afrodiasporischer Identitäten sah, ein noch immer sehr populärer Denkansatz, der afrodiasporischen Communitys einen gemeinsamen Referenzraum gibt. Pitts »Afropäisch« zeigt ebenfalls bestehende atlantische Verbindungslinien - wie die zwischen Amsterdam, dem von Niederländern gegründeten New York (zuerst New Amsterdam) und Surinam als ehemaliger niederländischer Kolonie - und unterstreicht sie, indem er die Biografien afrikanischstämmiger Menschen nachzeichnet.

»Afropäisch« gibt auch Einblick in die Gefühlswelt von politischen Aktivist*innen in Amsterdam, die im Kampf gegen die Figur des Zwarte Piet von der Polizei misshandelt werden, zeigt Aktivist*innen, die sich in Paris zusammenschließen, um einen Boykott der Geschäfte des französischen Parfümeurs Guerlain zu bewirken, mit dessen Urgroßvater die zweite Phase der französischen Kolonialherrschaft begann und der sich im Fernsehen rassistisch über Schwarze Menschen äußert. Aber wonach sucht Pitts auf seiner Reise eigentlich genau und was bedeutet »Afropäisch« - wer ist damit konkret gemeint?

Es ist der erneute Versuch eines Menschen afrikanischer Herkunft, sich selbst und denen, die seine Erfahrungen teilen, eine gemeinsame Identität zu verleihen, über die sie sich im Hier und Jetzt verbinden können. Afropäisch, so beschreibt es Pitts, sind die afrikanischen Gesichter »der zweiten, dritten und vierten Generation des neuen multikulturellen Europa«, die »Söhne und Töchter des Postkolonialismus oder vielleicht des Dekolonialismus«. Es sind die in Europa ausgebildeten europäischen Steuerzahler*innen afrikanischer Herkunft, die sich in der Gesellschaft, in der sie aufgewachsen sind, engagieren und die trotzdem immer wieder zu hören bekommen, sie sollten nach Hause gehen. Afropäer sind diejenigen, die es verstehen, »die Macht der schwarzen wie der weißen Geschichte auf eine positive und kreative Art zu nutzen«, die Pluralität feiern und zu jeder Form von ethnischem Nationalismus auf Distanz gehen.

Die afropäische Boheme

Und was ist die Verkörperung alles Afropäischen? Marseille! Dort, wo sich »arabische, korsische, italienische, afrikanische und französische Kultur miteinander« verflechten. Marseille hat ein wenig vom Harlem der 1920er Jahre, ein wenig vom Sheffield der 1990er und Tupfer von Rio und Marrakesch, Heimat einer »Art schwarzer Boheme«, »ein Ort für Schriftsteller, Wissenschaftler und Unruhestifter«. Dass das die Sehnsucht eines recht privilegierten Schwarzen Europäers ist, der da den alten Kontinent auf der Suche nach verwandten Seelen bereist, ist im Buch durchaus reflektiert: Pitts weist mehrfach darauf hin, räsoniert über Klassenzugehörigkeit und weiß, dass es für die Bewohner von Matongé in Brüssel, von Bijlmer in Amsterdam und Cova da Moura bei Lissabon oft um ganz andere Dinge geht: ums Überleben, darum, nicht unterzugehen, nicht verrückt zu werden.

Es ist aber ein in Europa bereits bekanntes Phänomen, dass Intellektuelle und Schriftsteller nicht dieselbe Sprache sprechen wie zum Beispiel die Arbeiterklasse oder die aufs Äußerste Marginalisierten unserer Gesellschaften. Genau wie der Begriff Afropolitan, der einmal eine junge, hippe afrikanische Elite beschrieb, die sich lässig über die Kontinente bewegt, läuft auch Pitts mit dem Begriff des Afropäischen - den eigentlich die Sängerin und Gründerin der Band Zap Mama, Marie Daulne, und ihr Produzent David Byrne geprägt haben - Gefahr, nur mit einer Minderheit unter den Menschen afrikanischer Herkunft in Europa zu sprechen. Wenn sich aber die afropäische Boheme, diese McKay, Baldwin und Philipps lesenden, kreativen Steuerzahler*innen der zweiten, dritten, vierten Generation für ihre Gesellschaften engagieren, dann treffen sich, so könnte man aus Pitts Buch schließen, die Interessen, Lebenserfahrungen und Perspektiven von Schwarzen Menschen in Europa klassenübergreifend. Vielleicht findet auch der in »Afropäisch« oft zitierte Hip-Hop die Sprache, die jenseits des Intellektualismus die Menschen erreicht.

Pitts verbringt einige Zeit auch in Berlin, wo die einzige Afropäerin, die er trifft, ein Mädchen ist. Während der gesamten Passage spricht die Sechsjährige kein Wort, und nur durch die Interpretationen des Autors wird sie überhaupt sichtbar. Die Eltern - ein Weißer Deutscher und eine Israelin, die das Mädchen als Baby während ihres Aufenthalts in Kenia adoptiert haben - und der Schwarze Block der Berliner Antifa nehmen im Buch mehr Raum ein als Menschen afrikanischer Herkunft. Dabei hätte Pitts bei seinem Spaziergang entlang der East Side Gallery nur den Blick zur anderen Seite der Spree wenden müssen, wo das May-Ayim-Ufer die Kämpfe und das Durchsetzungsvermögen Schwarzer Communitys in Deutschland bezeugt. Dass der Berlin-Abschnitt mit dem Ausschnitt eines Gedichts der afro-deutschen Dichterin abschließt, reicht da nicht aus. Das ist besonders schade, da das Buch in der Übersetzung nun ein deutsches Publikum erreicht, das mehr Informationen über die Geschichte und Gegenwart von Menschen afrikanischer Herkunft in Deutschland braucht.

Von Europa aus betrachtet

Und dennoch: »Afropäisch« ist ein wichtiges Werk, weil es den Versuch unternimmt, die geistigen Traditionen von Schwarzen Menschen in Europa zwischen Lissabon und Moskau zusammenzuführen und sie mit der heutigen Zeit zu verknüpfen. Kann es aber überhaupt zielführend für Menschen afrikanischer Herkunft sein, sich eine in irgendeiner Form europäische Identität aneignen zu wollen, fragt man sich. Was bei Pitts schnell auffällt, ist, dass er eine afrodiasporisch-afrikanische Identität beschreibt und sie von Europa aus betrachtet: Die karibischen Einflüsse der Surinamesen, der Martinikaner, der Jamaikaner, die sich in Europa mit äthiopischen, ghanaischen, nigerianischen, senegalesischen Einflüssen verbinden, und die Afroamerikaner, die ihren breiten Fußabdruck auf der geistigen Landkarte des Kontinents hinterlassen haben; DuBois’ Konzept der »Double Consciousness«, Ralph Ellisons’ »Invisible Man«, Baldwin, Richard Wright, Zora Neale Hurston, die afrikanischen Politiker*innen, Poet*innen, Denker*innen und Reisenden - alles vermischt sich natürlich auch mit Weißer europäischer Philosophie, Weißer europäischer Kunstgeschichte und dem europäischen alltäglichen Sein, den Ereignissen der heutigen Zeit.

»Afropäisch« beschreibt zwar keine neue Identität Schwarzer Menschen in Europa, aber es beschreibt eine neue Zeit der bereits bekannten Identität. Der größte Wert dieses Buchs liegt darin, dass es die zahlreichen Aspekte dieser oft im Verborgenen liegenden Identität zusammenträgt.

Johny Pitts: Afropäisch - Eine Reise durch das schwarze Europa . A. d. Engl. v. Helmut Dierlamm. Suhrkamp, 461 S., geb., 26 €.

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