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Nur dieser eine Sieg

Der Turezky-Chor auf dem Gendarmenmarkt in Berlin

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

«Musik stärkt die Immunität, das ist von deutschen Wissenschaftlern bewiesen», rief Michail Turezky am Sonntagnachmittag nach seinem Konzert in die Menge. Dein Wort in Gottes Ohr, möchte man mit einer Redensart antworten, die es in vielen Sprachen gibt. Eigentlich hatte er mit seinem Ensemble schon im Mai nach Berlin kommen wollen. Zum 75. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus «Lieder des Sieges» vor dem Brandenburger Tor singen - das hatte er sich gewünscht. Corona kam dazwischen. Bis Mittwoch war nicht klar, ob ein Auftritt in Berlin möglich ist - als krönender Abschluss einer Tournee, die von Moskau nach Budapest, Ljubljana, Bratislava, Prag, Wien, Turin, Rom und am Samstag bei strömendem Regen nach Dresden führte. Keine Zeit für Werbung. Dennoch waren - Abstandsregelungen und Maskenpflicht inklusive - fast alle Plätze besetzt. Die Leute sangen mit und schwenkten die Lichter ihrer Handys. Viele kannten die Texte der russischen Lieder. Aber es wurde auch auf Deutsch und Italienisch gesungen, auf Hebräisch und Jiddisch. Was viele womöglich nicht wussten: Es war der Tag vor Jom Kippur. Das Versöhnungsfest ist der höchste jüdische Feiertag.

Michail Turezky, 1962 in einer jüdischen Familie geboren, hat 1989 in der Moskauer Synagoge einen Chor gegründet, mit dem er jüdische Musik auch jenen bekannt machte, die davon keine Ahnung hatten. Über die Jahre hat er das Repertoire erweitert und ein einzigartiges Ensemble geformt: Mit ihm sind es zwölf Sänger - vom Basso profondo über Bariton und Tenor bis zum Countertenor und zum Männersopran - Solisten, die in ausgefeilter szenischer Inszenierung ein Klangerlebnis bieten, das von der Klassik über das Volkslied bis zum Pop reicht. Ab 2017 kamen sechs Sängerinnen des Ensembles «SOPRANO» hinzu - starke Frauen mit herrlichen Stimmen. Ein Programm der Kontraste, entworfen von einem charismatischen Entertainer. Doch ist er nicht insgeheim ein Prediger, der sich der Kunst bedient? - Im Sinne von Völkerverständigung, wie er es seinem Vater versprach, der zu den Befreiern Berlins gehörte. Was erst zu recherchieren war: Eigentlich hätte er Michail Epstein heißen müssen, doch er nahm den Namen der Mutter an, weil alle ihre Verwandten im Holocaust umgekommen sind.

«Lieder des Sieges» zum vierten Mal auf dem Gendarmenmarkt: Es begann mit Beethovens «Ode an die Freude» und Bachs «Ave Maria», gesungen von Michail Kusnezow im Koloratursopran. Dann ein russischer Walzer, der Gesang von drei Panzersoldaten, die im fernen Osten das Land gegen die «Samurai» verteidigen, die Verbeugung vor einer schönen Moldauerin (da stimmten viele ein). Bewegend Bulat Okudschawas Lied zum Film «Belorussischer Bahnhof». Von dort fuhren die Soldaten an die Westfront, und bei weitem nicht alle kamen zurück. Mit 24 Millionen Toten hat die Sowjetunion den höchsten Preis gezahlt, um den Hitlerfaschismus zurückzuschlagen. «Wir brauchen nur diesen einen Sieg - einer für alle, was es auch kosten mag.» Ein Sieg für alle. Daran ist zu erinnern im aktuellen Gezänk.

Der Tag der Befreiung wurde in der DDR ab 1950 begangen. In der Bundesrepublik tut man sich bis heute schwer, die Niederlage des Nazismus als Befreiung zu sehen. Und wenn ja, dann doch vor allem durch die US-Amerikaner? Denkmuster aus dem Kalten Krieg wirken bis heute fort. Beim «Glockenschlag von Buchenwald» erhoben sich alle von den Plätzen: «Menschen der Welt, seid dreimal wachsam: »Schützt den Frieden, Schützt den Frieden!« »Was weißt du vom Krieg«, wurde von der Bühne her gefragt. Schließlich das berühmte Lied »Meinst du, die Russen wollen Krieg?«

Kulturdiplomatie? Michail Turezky spricht von Brücken des Vertrauens, die Russland, die EU, China und die USA verbinden sollten. In Washington gab es schon ein begeisterndes Konzert und in Warschau ebenso. Wie es mit einer Einladung nach Kiew sei, wollte ich wissen. Die werde es irgendwann auch noch geben, antwortete er.

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