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Fragliche Normen
Ulrike Klöppel über den Schutz von intergeschlechtlichen Kindern
Das Bundeskabinett hat in der vergangenen Woche den Gesetzentwurf zum Schutz von intergeschlechtlichen Kindern vor medizinisch unnötigen Eingriffen beschlossen. Wieso wurde der Gesetzesentwurf nötig?
Seit den 1950er Jahren werden Kinder, die mit Genitalien und Geschlechtsmerkmalen auf die Welt kommen, die nicht der männlichen oder weiblichen Norm entsprechen, zurechtoperiert. Die Annahme war, dass es für Eltern leichter ist, solche Kinder als eindeutige Mädchen oder Jungen zu erziehen, und dass es auch für die Kinder besser ist. In den 1990er Jahren wagten sich intergeschlechtliche Aktivist*innen an die Öffentlichkeit. Sie sprachen über ihre Narben, den Verlust ihrer sexuellen Empfindsamkeit und über die Unsicherheiten und Ängste, die das Verschweigen dieser Eingriffe ausgelöst hatte. Mittlerweile werden solche Operationen als Verletzung der Menschenrechte angesehen. Internationale Menschenrechtsinstitutionen fordern, diese Verletzung der körperlichen Integrität zu unterbinden. Dem will nun das Justizministerium mit diesem Gesetzesentwurf nachkommen.
Die promovierte Soziologin arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin und engagiert sich für die Rechte intergeschlechtlicher Menschen. Unter anderem hat sie zwei Studien zur Fortsetzung kosmetischer Genitaloperationen im Kindesalter durchgeführt. Mit ihr sprach Kirsten Achtelik.
Ist das gelungen?
Es ist erst mal gut, dass die Regierung das Gesetz noch vor dem Wahlkampf durchbringen will. Probleme des Entwurfs vom Januar, zum Beispiel die weitreichenden Ausnahmen von dem Verbot, sind geändert. Der jetzige Entwurf beschränkt das Verbot auf Genitaloperationen, hormonelle und andere medikamentöse Behandlungen an nicht einwilligungsfähigen intergeschlechtlichen Kindern. Das bezieht sich hauptsächlich auf Kinder unter zehn Jahre. Das Gesetz ist damit nicht umfassend genug, und ich bezweifle, dass es in der Praxis so wirksam sein wird, wie es zum Schutz der Kinder nötig wäre.
Was kritisieren Sie?
Ein großes Problem ist in meinen Augen, dass das Gesetz nicht alle Schutzbedürftigen schützen wird. Das Verbot soll nicht einwilligungsfähige Kinder mit »Varianten der Geschlechtsentwicklung« vor Eingriffen schützen, allerdings auch nur diese. »Varianten der Geschlechtsentwicklung« ist eine medizinische Begrifflichkeit, die von Organisationen intergeschlechtlicher Menschen abgelehnt wird. Das weltweite Netzwerk »Organisation Intersex International« bevorzugt Begriffe wie »intergeschlechtliche Menschen« und »Variationen der körperlichen Geschlechtsmerkmale« und betont die Vielfalt geschlechtlichen Seins.
Statt Vielfalt setzt der medizinische Begriff also strikt auf Eindeutigkeit?
Der medizinische Terminus »Varianten der Geschlechtsentwicklung« macht normativ die Nicht-Übereinstimmung der Geschlechtsmerkmale zum Problem, dass sich also bei einer Person nicht alle Merkmale (Chromosomen, Hormone, innere und äußere Genitalien) entweder eindeutig dem weiblichen oder dem männlichen Geschlecht zuordnen lassen. In der Begründung für den Gesetzentwurf heißt es: »Der Begriff lehnt sich an die medizinische Einordnung an und ist daher wandelbar.« Wenn die medizinischen Fachgesellschaften beschließen sollten, dass bestimmte Phänomene und körperliche Besonderheiten nicht mehr als »Variante der Geschlechtsentwicklung« gelten, dann sind die betreffenden Kinder nicht vor unnötigen kosmetischen Genitaloperationen geschützt.
Einwilligungsfähige ältere Kinder und Jugendliche schützt der neue Gesetzentwurf nicht?
Nein, und das ist meine zweite große Sorge. Beratungsstellen berichten, dass sich intergeschlechtliche Jugendliche auf kosmetische Operationen einlassen, die sie später bereuen, weil sie die Folgen nicht wirklich überblicken konnten. Gerade in der Pubertät ist es ja sehr schwer, sich von Geschlechternormen abzugrenzen. Für ältere Kinder und Jugendliche, die als einwilligungsfähig angesehen werden, sieht das Gesetz jedoch keinen Schutz vor. Es gibt also keine Überprüfung etwa durch ein Familiengericht, ob die Jugendlichen auch wirklich umfassend aufgeklärt wurden, vor allem über langfristige Risiken der Eingriffe und über Alternativen. Es müsste außerdem sichergestellt werden, dass die Jugendlichen einen Erfahrungsaustausch mit anderen intergeschlechtlichen Menschen hatten über das Für und Wider einer Operation oder Hormonbehandlung.
Halten Sie es für realistisch, dass mit dem Gesetzentwurf wenigstens die Operationen an intergeschlechtlichen Kindern aufhören?
In der Praxis ist es sehr schwierig zu überprüfen, ob für kosmetische Behandlungen nicht medizinische Gründe vorgeschoben werden. Solch ein Fall kann zum Beispiel sein, dass die Harnröhre so verwachsen ist, dass Entzündungen möglich sind. Dann ist eine Operation möglicherweise angebracht, aber das Problem ist, dass mit der Harnröhre gleich auch das Erscheinungsbild des Genitals vereindeutigt wird. Dabei werden zum Beispiel aus einem Hodensack Schamlippen geformt und das Kind, das auch andere Möglichkeiten gehabt hätte, wird damit auf ein weibliches körperliches Erscheinungsbild festgelegt.
Wie sollen solche Fälle mit dem neuen Gesetz geregelt werden?
Diesen Graubereich aufzuhellen, hat sich das Justizministerium wirklich zur Aufgabe gemacht. Solche Fälle müssen künftig von einem Familiengericht überprüft werden. Dieses soll abwägen, ob die medizinischen Gründe nicht nur vorgeschoben sind und ob abgewartet werden kann, bis das Kind einwilligungsfähig ist und selbst über die Behandlung entscheiden kann. Außerdem soll es eine interdisziplinäre Kommission geben, in der neben Ärzt*innen auch psychologisch und pädagogisch tätige Menschen sitzen. Die Kommissionsmitglieder müssen Erfahrung mit intergeschlechtlichen Kindern haben und sollen entscheiden, ob der geplante Eingriff dem Kindeswohl entspricht, also die Abwendung medizinischer Risiken hier Vorrang hat gegenüber dem Schutz der geschlechtlichen Selbstbestimmung des Kindes.
Sehen Sie hier noch Verbesserungsbedarf?
Die Regelung sieht leider keine verpflichtende Einbeziehung einer Person in den Prozess vor, die selber intergeschlechtlich ist. Eltern sollten zu einer Beratung verpflichtet werden, die eher auf die Lebensrealität von intergeschlechtlichen Menschen fokussiert ist als auf die medizinischen Besonderheiten. Auch die Formulierung in der Gesetzesbegründung, dass bei den Abwägungen einfließen soll, ob das »Kind selbst einen verfestigten eigenen Wunsch entwickelt hat«, ist ein gefährliches Einfallstor, um die Verbotsregelung zu umgehen.
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