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Besser erinnern
Die Initiative »Transition Dialogue« will, dass Osteuropa klüger über die Wendezeit spricht.
Man nimmt die ersten Schritte Richtung Unabhängigkeit, irrt und lernt, erspürt die eigene Position im gesellschaftlichen Umfeld. Die Erfahrungen, die Menschen in ihrer Jugend machen, gehören zu den prägendsten ihres Lebens. Doch was, wenn dem eigenen Land parallel ganz Ähnliches widerfährt?
Von 1989 bis 1991 erlebten das Millionen Menschen in Mittel- und Osteuropa. Damals lag der Fokus auf dem Umbau der politischen Systeme und der Umgestaltung der Wirtschaft. So notwendig das auch gewesen wäre, sagt Louisa Slavkova, Leiterin der bulgarischen Initiative Sofia Platform, die Verankerung einer demokratischen Kultur und die persönlichen Geschichten junger Menschen wären dabei vernachlässigt worden.
Vor fünf Jahren schloss sich Sofia Platform deshalb unter der Leitung des Deutsch-Russischen Austauschs mit zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Rumänien, Russland, der Ukraine, Kroatien sowie Bosnien und Herzegowina zusammen. Im Projekt »Transition Dialogue«, gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung, reflektierten Menschen aus postsozialistischen Ländern gemeinsam ihre Transformationserfahrungen - das Schöne, das Traumatisierende, das Lehrreiche. So soll die aktive Teilnahme und Teilhabe an Demokratisierungsprozessen gefördert werden.
Das Projekt trug den Untertitel »Mapping a Generation«, also die Abbildung derjenigen, die zwischen 1975 und 1995 geboren wurden und die Transformation ihrer Heimatländer und deren Nachwirkungen bewusst erlebten. Es ist gerade diese Generation, die jetzt in entscheidende Positionen kommt und ihre Gesellschaften aktiv mitprägen könnte.
Um diese mittel- und osteuropäische »Generation des Übergangs« besser kennenzulernen, führte Sofia Platform 2017 eine Studie zu ihren Werten und Einstellungen durch. Befragt wurden junge Erwachsene aus den vier Visegrád-Staaten, dem Westbalkan, den Ländern der Östlichen Partnerschaft sowie Bulgarien und Rumänien. Während einige dieser Staaten sich zu Demokratien formierten, waren andere mit Krieg und Korruption konfrontiert oder bestehen bis heute in autoritären Systemen. Wie können vor einem so heterogenen Hintergrund gemeinschaftsstiftende Erfahrungen ausgetauscht werden?
Für Louisa Slavkova bestehen die Gemeinsamkeiten nicht so sehr im Umbruch, sondern in der Zeit davor: »Der Versuch der Sowjetunion war es, einen vereinheitlichten Menschen zu schaffen, der wenig in die eigene Lebensgestaltung eingreifen konnte.« Nur aus dieser wahrgenommenen Passivität und Machtlosigkeit hätte die Haltung entstehen können, die laut der Studie viele Befragte bis heute begleitet: hohe Erwartungen an einen paternalistischen Staat, der Arbeit und Bildung bietet und gleichzeitig kaum Steuern erhebt.
Ein weiterer Trend für die gesamte Region findet sich in der Altersstruktur. Während die erste Kohorte der Generation, also die zwischen 1975 und 1985 Geborenen, stärker politisiert sind und sich für abstrakte demokratische Werte begeistern, interessieren sich die zwischen 1985 und 1995 Geborenen eher für ihr persönliches Fortkommen und ihren gesellschaftlichen Status. Pragmatismus und ein Misstrauen in Institutionen charakterisieren sie. Laut der Studie lassen sie sich eher für politische Anliegen begeistern, die unmittelbar ihren Alltag betreffen, etwa Luftverschmutzung.
Wie unterschiedlich die Erfahrungen in den jeweiligen Ländern sind, spüren die Organisationen, die sich bei »Transition Dialogue« engagieren, selbst untereinander. Das beginnt schon beim Namen des Projekts. »Transition« meint in der postsozialistischen Forschung den Übergang von einem autoritären System hin zur Demokratie. Aber: »In manchen osteuropäischen Kontexten meint ›Transition‹ einfach Wandel, Veränderung. Woanders ist damit der Übergang der Verstorbenen ins Jenseits gemeint«, erklärt Slavkova. Nicht das beste Vokabular also, um Menschen für Politik zu begeistern. Doch es gibt auch ernstere Konflikte: »Auf einer Tagung letztes Jahr hatten wir eine hitzige Diskussion um den Begriff der ›Eliten‹. Mittlerweile ist das zum Beispiel in Polen ein Wort, das eindeutig negativ behaftet ist, das Populisten für sich beanspruchen.«
Denn so wichtig es sei, dass Menschen ihre Transitionserfahrungen schildern, seien die Erzählungen auch immer ein Drahtseilakt. »Persönliche Anekdoten sind wichtig, therapeutisch. Menschen müssen von ihren Traumata erzählen können. Aber man muss sich immer fragen, wie repräsentativ die Erinnerungen sind«, sagt Slavkova. Sonst bestehe die Gefahr, dass man Kaczyński und Orbán in die Hände spielt: »Sie springen auf Erzählungen von Enttäuschung und Desillusionierung an. Sie betonen, dass die Helden der 90er Jahre, die den Liberalismus, das Westliche verbreiten wollten, schuld sind an den schlechten Erfahrungen. Sie behaupten, dass die Nationalisten die wahren Wahrer europäischer Werte sind. Aber sie sind es nicht.«
Wie also erinnern, ohne in Hoffnungslosigkeit oder nationalistische Narrative zu verfallen? Damit beschäftigt sich »Transition Dialogue« in der laufenden Projektphase. Ende 2021 soll ein Handbuch für Lehrkräfte erscheinen, um Schulklassen ein differenziertes Bild von der Transition in den unterschiedlichen Ländern zu vermitteln. Dabei sei durchaus erwünscht, dass ein deutscher Lehrer einmal den Lehrplan der litauischen Lehrerin ausprobiert und andersherum. »Multiperspektivität« sei hier der Schlüssel, so Slavkova.
Um die jungen Menschen weiter zu politisieren, sei wichtig, »ihnen das Gefühl zu geben, dass sie agency, also Handlungsfähigkeit, haben. Dass das, was sie erfahren haben, wichtig und lehrreich ist«, ergänzt sie. In Bulgarien hat Sofia Platform damit schon angefangen. Die dortige »Generation der Transition« teilt ihre Erfahrungen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren aus Nordafrika und dem Nahen Osten, die eine Demokratisierung ihrer Länder anstreben. Dass die turbulenten Jahre der Transition noch nicht lange zurückliegen und dass Bulgarien selbst mit Demokratiedefiziten zu kämpfen hat, sei hier ausnahmsweise von Vorteil: »Das schafft eine Nähe und Intimität, wie sie mit alten, erfahrenen Demokratien nicht entstehen würde.«
Auch wenn die Generation der Transition noch relativ jung ist: »Transition Dialogue« legt Wert darauf, die Zeitzeug*innen jetzt zu befragen. Denn Erinnerungen können sich schnell verändern oder verblassen. Sie jetzt zu dokumentieren soll auch verhindern, dass reaktionäre Kräfte sie für sich gebrauchen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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