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  • »Milla Meets Moses«

Nichts ist im Lot

Mit ihrem Debütfilm »Milla Meets Moses« hat die australische Regisseurin Shannon Murphy einen kleinen Geniestreich gelandet

  • Nicolai Hagedorn
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie lässt sich über Liebe und Verliebtheit filmisch reden, ohne dabei in Kitsch und Tränendrüse oder billige RomCom-Klischees zu verfallen? Wie einen Liebesfilm drehen, der sein Thema ernst nimmt und trotzdem das Komische an menschlichen Beziehungen einfängt?

Mit ihrem Debütfilm »Milla Meets Moses« hat die australische Regisseurin Shannon Murphy einen kleinen Geniestreich gelandet. Murphy gelingt es, ihre Darstellung einer jungen, sehr komplizierten Liebe als Kunstwerk zu markieren und, etwa durch kommentierende Einblendungen, den Zuschauer auf Abstand zu halten. Gleichzeitig führt sie aber mit den vier Protagonisten außerordentlich starke Identifikationsfiguren ein und schafft so eine Nahdistanz, die den Raum für ein intensives Filmerleben öffnet.

Milla (Eliza Scanlen) trifft Moses (Toby Wallace) an einem Bahnsteig. Moses sagt: »Deine Haare sehen aus wie ein goldener Armreif.« Sie sagt: »Deine sind auch hübsch.« Bereits bei dieser ersten Begegnung gehen beide auf Tuchfühlung, Milla darf Moses’ kleine Narbe am Kopf berühren. Milla ist 15 und Krebspatientin, Moses acht Jahre älter, Kleindealer, obdachlos und für sein Alter ziemlich abgewirtschaftet.

Das hat er mit der ganzen »Milla-Meets-Moses«-Welt gemeinsam. In dem Film, der auf dem Theaterstück »Babyteeth« (so auch der englische Originaltitel des Films) von Rita Kalnejais basiert, die auch das Drehbuch zum Film geschrieben hat, sind dysfunktionale oder mindestens derangierte Beziehungen Normalität. Nichts ist im Lot, nichts okay, die Mittelschichtwelt, in die wir hier blicken, ist nur noch eine Karikatur dessen, was die bürgerliche Propaganda davon üblicherweise glauben macht. Millas Vater Henry (Ben Mendelsohn), Psychiater, nimmt und verschreibt munter allerlei Drogen, versucht mit der eigenen Frau Rollenspielsex auf dem Praxistisch, stellt sie medikamentös ruhig und ist scharf auf die schwangere, kettenrauchende Nachbarin. Mutter Anna (Essie Davis) kann beim ersten gemeinsamen Abend mit dem neuen Freund der Tochter ihr Gesicht nicht mehr fühlen, so high ist sie. Moses’ Mutter indes ruft umgehend die Polizei, wenn ihr Sohn zu Hause aufkreuzt.

Inmitten dieser Zustände, die bei aller darin sich spiegelnden Ödnis auch sehr komisch sind, finden Milla und Moses heraus, wie es ist, sich zu verlieben, und das kann nur funktionieren, weil die Menschen in »Milla Meets Moses« trotz allem fühlend, einander zugewandt bleiben. Zärtlichkeit, Zuneigung, Wohlwollen halten die kaputten Beziehungen und Menschen irgendwie zusammen.

Millas wohlsituierte Eltern sind von dem drogenabhängigen Punk, der neuerdings in ihrem Haus abhängt, wenig begeistert, was diesen aber kaum interessiert; wirklich konsequent ist die Ablehnung aber ohnehin nicht, und so kommt man sich bald näher.

Verständigung läuft in »Milla Meets Moses« immer über Körperliches, ein Wink, eine Geste, eine Berührung, oft sind die Körper in Kontakt und Aufruhr, sind zärtlich, stoßen sich ab, werden hart und abweisend. Immerzu sind sie die Ausgangspunkte von Veränderungen und Manipulationen. Und werden auch von der Kamera aus großer Nähe präsentiert, erforscht, abgesucht. So sind auch die Leitmotive unmittelbar körperlich: Moses’ krakelige Tattoos etwa, die sogar sein Gesicht zieren, oder Millas kleine Anomalie - sie hat noch im Teenageralter einen Milchbackenzahn (daher auch der Originaltitel »Babyteeth«) -, und mindestens genauso prominent geraten die Haare der Protagonistin in den Fokus der Darstellung. Während Moses, gewissermaßen als Initiationsritus der Freundschaft, Milla die Haare mit einem Hundehaarrasierer kürzt, erscheint sie kurz darauf wegen der Chemotherapie ganz kahlköpfig. Fürderhin trägt sie verschiedene Perücken, die aus dem todkranken, jungenhaften Mädchen eine attraktive, vollkommene Gesundheit ausstrahlende Teenagerin machen. So reflektiert der Film ganz nebenbei die Macht von Geschlechtszuschreibungen und Weiblichkeitsstereotypen.

Milla und Moses suchen sich mit allem, was sie haben, doch der Weg zueinander ist vielfach verstellt und perspektivlos. Dabei spielen, allerdings eher dezent im Hintergrund, auch Klassenfragen eine Rolle. Die Abgrenzung der Wohlsituierten wird umgehend Makulatur bei jeder Konfrontation mit der Unterschicht. Millas Musiklehrer, Moses, auch die leicht verwahrloste Nachbarin sind Anziehungspunkte für die Kleinbürgerfamilie aus dem Bilderbuch und werden im Verlauf des Films von Klischeefiguren zu echten Menschen.

Die meisterhaft dargestellten Widersprüche der bürgerlich zugerichteten Beziehungen und die sich daraus ergebenden schroffen Gegensätze zu der trotz allem immer und überall noch durchscheinenden Zuneigung und Zärtlichkeit (die Menschen können offenbar nicht anders) bilden die Kulisse einer Coming-of-Age-Geschichte. Eine, die trotz des etwas zu sentimental geratenen Finales tatsächlich so etwas ist wie eine sehr kluge, komische aber auch reichlich traurig-schöne RomCom.

»Milla Meets Moses«: Australien 2019. Regie: Shannon Murphy; Drehbuch: Rita Kalnejais. Mit: Eliza Scanlen, Toby Wallace, Essie Davis

und Ben Mendelsohn;120 Min.

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