Erinnerungsort für vergessene NS-Opfer

Union und SPD setzen spät ihr Versprechen um, die Geschichte deutscher Besatzungspolitik aufzuarbeiten

  • René Heilig
  • Lesedauer: 3 Min.

Zugegeben, das Thema wird im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD nur mit zwei Sätzen abgehandelt, doch das ist kein Grund, sie gering zu schätzen. »Bisher weniger beachtete Opfergruppen des Nationalsozialismus«, so heißt es in dem 2018 unterzeichneten Dokument, »wollen wir anerkennen und ihre Geschichte aufarbeiten. Wir stärken in der Hauptstadt das Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im Osten im Dialog mit den osteuropäischen Nachbarn.«

Obwohl die linke Opposition im Bundestag immer wieder die Einlösung dieser Absicht anmahnte, geschah lange Zeit nichts. Nun soll jedoch alles auf einmal sehr schnell gehen. Die drei Koalitionsparteien CDU, CSU und SPD brachten einen Antrag ins Parlament ein. Der Titel lautet: »Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskriegs stärken und bisher weniger beachtete Opfergruppen des Nationalsozialismus anerkennen«. Bereits am Freitag soll darüber eine Stunde debattiert und dann - ohne Ausschüsse damit zu befassen - abgestimmt werden. Die Bundestagsfraktion der Grünen hat einen nahezu identischen Antrag vorgelegt.

Union und Sozialdemokraten erinnern daran, dass der Bundestag im Jahr 1997 mit Mehrheit anerkannte: »Der Zweite Weltkrieg war ein Angriffs- und Vernichtungskrieg, ein vom nationalsozialistischen Deutschland verschuldetes Verbrechen.« Ihm fielen weltweit über 60 Millionen Menschen zum Opfer. Man legt Wert auf die Feststellung, dass fraktionsübergreifend die Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas beschlossen und ebenso Orte zur Erinnerung an die ermordeten Sinti und Roma, die von den Nazis verfolgten Homosexuellen sowie für die Opfer der NS-»Euthanasie« geschaffen wurden .

Auch die Stiftung »Flucht, Vertreibung, Versöhnung« wird als »ein Meilenstein der deutschen Erinnerungspolitik« gewertet. Zusammen mit vielen KZ-Gedenkstätten, der »Topographie des Terrors«, dem Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit, der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und anderen lokalen Initiativen bilden sie »eine wichtige Gedenklandschaft«. Doch: »Angesichts des heutigen Kenntnisstandes über den Zweiten Weltkrieg, insbesondere die nationalsozialistische Kriegs- und Besatzungspolitik«, stehe außer Frage, »dass im bestehenden repräsentativen Gedenkensemble einige Opfergruppen bisher weniger Beachtung finden«.

Die folgende Erläuterung gibt - so wie andere Passagen des Antrags - Anlass zum Stirnrunzeln. So heißt es etwa, dass »entsprechend der nationalsozialistischen Rassen- und Lebensraumideologie zum Beispiel die Bevölkerung Polens, anderer osteuropäischer Staaten und der Sowjetunion, hier insbesondere die Bevölkerung des heutigen Belarus und der heutigen Ukraine, als ›minderwertige Slawen‹, als ›Untermenschen‹ zu einer rechtlosen Masse erklärt wurde, die versklavt, getötet oder nach Osten vertrieben werden sollte.« Wieso erwähnt man nicht gleichberechtigt die Russen? Fürchtet man eine zu große Nähe angesichts aktueller Widersprüche zwischen Berlin und Moskau?

Streitbar ist auch die im Antrag vorgenommene zu oberflächliche Wertung des sogenannten Hitler-Stalin-Paktes. Doch insgesamt ist das Dokument schon deshalb wichtig, weil die politische Rechte in Deutschland »in der Erinnerungskultur eine Neubewertung des Nationalsozialismus« anstrebe. Bewusst würden Ereignisse wie die Bombardierung Dresdens missbraucht, um einen Opfermythos anzufachen. »Damit wird ein gesellschaftlicher Konsens in Frage gestellt, der im steten Bewusstsein um eine verantwortungsvolle Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte erwachsen ist und bis zum Ende der 18. Legislaturperiode von allen Fraktionen des Deutschen Bundestages getragen wurde.«

Der Hinweis in Richtung AfD ist deutlich. Insgesamt jedoch wird erwartet, dass es am Freitag im Bundestag eine breite demokratische Mehrheit für den Antrag und die Errichtung einer Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte geben wird. Sie soll »Informationen bieten, die historischen Zusammenhänge vermitteln, über das geschehene Leid in Europa wie Deutschland aufklären« und den Nachkommen der Opfer Raum für Gedenken und Erinnerung geben.

Mit Sicherheit ist das eine auch außenpolitisch schwierige Aufgabe, denn die jeweilige Sicht auf die Geschichte unterscheidet sich angesichts neuer alter Nationalismen und Ressentiments in den betroffenen osteuropäischen Staaten erheblich voneinander.

In der kommenden Sitzungswoche wird der Bundestag zudem über die Errichtung eines Ortes der Begegnung abstimmen, in der in Berlin die deutsch-polnische Geschichte dargestellt und damit insbesondere die Zeit der faschistischen Okkupation Polens aufgearbeitet werden kann.

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