Wenn es Schokoriegel regnet
2020 lässt sich in 1990 erkennen - und umgekehrt
Das klebrige Zeug kannte ich nicht, und es war peinlich, wie sich andere danach bückten. Ich sehe noch vor mir, wie am 14. März 1990 während der Buchmesse in Leipzig von einem Lastwagen Mars-Riegel in die Menge geworfen wurden, als Werbung für die Kundgebung von Helmut Kohl auf dem Karl-Marx-Platz, der heute Augustusplatz heißt. Auf der Messe nutzten Westverlage schon die Gelegenheit, Ladenhüter loszuwerden. Mit der Pressefrau von Heyne sprach ich über Horrorliteratur, die wir bestenfalls als klassisches Genre kannten. Was suchen die Leute bei Stephen King? Ablenkung, sagte sie. Erholung vom alltäglichen Horror.
Nun, so schlimm würde es nicht werden. Das Westfernsehen zeigte stets glückliche Menschen, die nach ihrem Weggang aus der DDR sofort Arbeit und Wohnung fanden. Die Kamera fokussierte das Geld, das sie erhielten. Meine Eltern, so alt wie ich jetzt, kamen im Dezember 1989 nach Berlin, wir fuhren zusammen «nach drüben». «Das wird wieder eins», sagte Mutter am U-Bahnhof Leinestraße. Vater schwieg, es tat ihm weh.
Am 28. November hatte ich für das damalige «ND» über die Pressekonferenz geschrieben, bei der Christa Wolf und Stefan Heym den Aufruf «Für unser Land» vorstellten. Hernach gab es Unmengen Leserbriefe, oft zustimmend, manche voll Selbstbezichtigungen: Man hätte mutiger für einen Sozialismus eintreten müssen, der den Namen verdiente. Einer schrieb, die Chance sei viel früher vertan worden, und nannte Beispiele. Ich sei jung, antwortete ich, und denke an künftige Chancen.
Bei der Lektüre des Buches «Tamtam und Tabu» kommen Erinnerungen hoch, bei jedem wohl andere. Man staunt, was man vergessen hat, was überlagert wurde. Maueröffnung: Menschenmengen laufen auf die Kameras von ARD und ZDF zu. Eine Frau weint Freudentränen: «Wahnsinn!» Dagegen erinnere ich mich, wie wir auf der Berliner Oberbaumbrücke unsere Personalausweise hochhielten, den Grenzbeamten zulachten: «Wir kommen wieder.» Freilich, viele sind später drüben geblieben und dabei unterstützt worden. Die Krise der DDR konnte nicht tief genug sein, um den Beitritt zur BRD zu erzwingen.
«Feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen» nennt das für damals Daniela Dahn. Als «freiwillige Selbstentmündigung» bezeichnet der Psychologieprofessor und Sachbuchautor Rainer Mausfeld ein analoges Phänomen, das er im Heute findet. Wie derlei läuft, welche Manipulationen wirken, darum geht es in diesem Buch, das den Bogen spannt von 1989 bis heute, von der Bürgerrechtsbewegung bis zur Pandemie.
«Wende wohin?» - die Rede von Rainer Mausfeld über die «Realität hinter der Rhetorik» am 9. Oktober 2019 in der Dresdner Kreuzkirche lag schon vor, als der Westend Verlag Dahn um einen Text zum Thema bat. Doch wollte sie sich nicht wiederholen. So wandte sie sich einer Frage zu, die sie schon lange beschäftigte: «Wie war es möglich, das in vierzig Jahren gewachsene Selbstbewusstsein einer Bevölkerung in einem Vierteljahr auf den Kopf zu stellen?» Wie konnten alle Reformvorschläge so rasch vom Tisch gewischt werden, wie konnte die «Allianz für Deutschland», am 6. Februar 1990 in Westberlin gegründet, bei der Märzwahl 1990 gut 48 Prozent der Stimmen erhalten?
Die bis heute gut genährte Vorstellung, eine Mehrheit habe der DDR schon im Herbst 1989 keine Chance mehr gegeben, widerlegt die Autorin faktenreich. Detailliert untersucht sie, wie Medienkampagnen mit teils erlogenen Feststellungen Stimmung machten. Empörung wurde geschürt über den Verrat an Gleichheitsidealen durch die DDR-Führung. Ein Katastrophenszenario wurde entworfen, das die Ankündigung einer Währungsunion als letzte Rettung erscheinen ließ. Ich sehe noch vor mir, wie Helmut Kohl im Westfernsehen in geradezu liebevoller Weise eine finanzielle Unterstützung von Reformen in der DDR ankündigte. Allerdings hat er darunter wohl anderes verstanden als ich. In den Knochen steckte mir der «Schürer-Bericht», der, so Dahn, wohl um in der DDR «die Bereitschaft für Perestroika in der Wirtschaft zu beschleunigen», alle Valuta-Schulden auflistete, «ohne die Guthaben gegenzurechnen». Mit diesen «Schreckenszahlen fuhr der ahnungslose Krenz zum ahnungslosen Gorbatschow, und beide waren erschrocken.» Dass es mit der DDR immer weiter bergab gehe, sagte Kohl dann zu Gorbatschow, dem selbst das Wasser bis zum Halse stand. Die UdSSR bekam einen bundesverbürgten Fünf-Milliarden-Kredit. Später wurde ein weiterer zinsloser Kredit offeriert. Unser Reformversuch - verkauft?
Doch musste noch gewählt werden. «Der eigentliche Wunsch bestand bis zuletzt darin, Eigenes in die Einheit einzubringen», meint Dahn. «Der Meinungsumschwung war einem Diktat aus Desinformationen, Zermürbung und Erpressung geschuldet.» In fünf Telefonkonferenzen besprach sie mit Mausfeld, wie derlei vonstatten geht. Die «zivilisatorische Leitidee von Demokratie», ein «Schutzbalken gegen das rohe Recht des Stärkeren zu sein», könne im Kapitalismus nicht funktionieren, sagt er, weil dieser «die Minderheit der Besitzenden strikt vor den Veränderungswünschen der Mehrheit zu schützen» hat. Deshalb sei «ein einzigartiges Arsenal höchst raffinierter Manipulationsmethoden» entstanden, schon «um bei den Wählern den Eindruck völliger Freiheit aufrechtzuerhalten und zugleich sicherzustellen, dass diese so wählen, wie sie wählen sollen». An «systeminterne Lösungen» glaubt er nicht mehr. Reformismus sei den Mächtigen fast immer «Revolutionsprophylaxe». Die «Systemkrise des globalisierten Finanzkapitalismus», durch Corona nur verdeckt, könne politische Radikalisierungen gebären, «die dann wiederum als Vorwand für weitere autoritäre Maßnahmen» dienen. Dahn zitiert Hannah Arendt: «Demokratie trägt Totalitarismus als Tendenz immer in sich.»
Der Beitritt war folgenreich in Ost und West. Hätte der behutsamere Weg einer Konföderation, hätte eine neue, gesamtdeutschen Verfassung eine Chance gehabt? Dass beide Seiten sich änderten, vielleicht gemeinsam einen «dritten Weg» fänden, war immerhin eine schöne Idee. Doch als es in Leipzig Mars-Riegel regnete, war das vorbei. So billig waren die Eingeborenen also zu kaufen? Ob es ihnen heute gut geht oder schlecht: Es blieb ein Gefühl der Demütigung und Kränkung, auch in den späteren Generationen.
«Auf Beutezug» war am 15. März 1990 der «Standpunkt» auf der Titelseite des ND überschrieben. «Dass Parteien eines Staates in den Wahlkampf eines anderen derart massiv und dazu noch unmittelbar vor Ort eingreifen», verletze die Demokratie. Ebenfalls auf dieser Seite stand die Ankündigung von Wolfgang Schäuble, nach den Wahlen die Sonderleistungen für Übersiedler einzustellen. Gorbatschow sei auf dem Kongress der Volksdeputierten als einziger Kandidat für das Präsidentenamt gewählt worden, wird vermeldet. Bush trifft Mitterrand. Polen wird an den «Verhandlungen von DDR, BRD, Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich teilnehmen. »Zwei plus Vier« sollen sie nicht mehr heißen, um den parallelen Gesprächen zwischen den deutschen Staaten keinen Vorrang vor denen der Alliierten einzuräumen. Gregor Gysi spricht auf dem Alex gegen eine »BRDigung der DDR«. Unermüdlich warnte er im DDR-Fernsehen vor den Gefahren der Währungsunion.
Gegen diese »freiwillige Selbstentmündigung« blieben damals wie heute dennoch viele immun. Obwohl es ja fast immer irgendetwas Klebriges regnet.
Daniela Dahn, Rainer Mausfeld: Tamtam und Tabu. Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung, Westend, 192 S., brosch., 18 €.
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