Aufklärung und Transparenz statt Angstmache

Aus schwedischer Sicht wirkt die Debatte um den angeblichen Corona-Sonderweg des Landes vor allem befremdlich. Dabei wird die Pandemie hier sehr ernst genommen

  • Philip Franzén, Malmö
  • Lesedauer: 5 Min.

In der Debatte über den richtigen oder falschen Umgang mit Corona wird vor allem in Europa gern nach Schweden geblickt. Die einen ziehen es als positives Beispiel dafür heran, dass das Leben trotz Pandemie seinen gewohnten Gang gehen kann. Für die Befürworter möglichst weitreichender Maßnahmen gilt Schwedens Politik hingegen als warnendes Beispiel. Auch in Deutschland war man wohl noch nie so sehr an Schweden interessiert wie nun während der Coronakrise. Das bedeutet allerdings nicht, dass die hiesige Öffentlichkeit gut darüber im Bild ist, was in dem skandinavischen Land tatsächlich vor sich geht.

Schwedens Strategie nahm Gestalt an, als die Pandemie im März Europa erreichte und schnell klar war, dass sich das Virus auch im Norden ausbreitet. Die Botschaft der Behörden an die Gesellschaft lautete von Anfang an: Covid-19 wird so schnell nicht verschwinden, daher wird sich die Lebensweise der Schweden daran für eine längere Zeit anpassen müssen. Entsprechend entwickelte die staatliche Gesundheitsbehörde Folkhälsomyndigheten eine Strategie, die darauf abzielte, während der Pandemie eine funktionierende Gesundheitsversorgung aufrechtzuerhalten. Die ergriffenen Maßnahmen sollten nachhaltig sein, das heißt, von der großen Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert und dauerhaft befolgt werden können. Extreme Beschränkungen, wie ein Lockdown, Schul- und Grenzschließungen, wurden nur für den Fall ins Auge gefasst, dass das Risiko einer Überlastung des Gesundheitswesens droht. Im Frühjahr gingen die zuständigen Behörden davon aus, dass die Situation in den Krankenhäusern beherrschbar bleibt. Das hat sich auch im Nachhinein als zutreffend erwiesen: Auf dem Höhepunkt der ersten Welle verfügte Schweden noch über eine freie Intensivpflegekapazität von 20 Prozent.

Statt einen Lockdown zu verordnen, wurde eine massive Informationskampagne gestartet. Diese hat die Aufgabe, die Bevölkerung davon zu überzeugen, in ihrem Alltag die im Hinblick auf den Infektionsschutz notwendigen Maßnahmen zu treffen. Die Voraussetzungen in Schweden für ein solches Vorgehen sind weltweit fast einzigartig: Die staatlichen Behörden genießen allgemein ein sehr hohes Maß an Vertrauen. Eine Voraussetzung, die Folkhälsomyndigheten sich zu Nutze machte: Täglich wurde eine einstündige Pressekonferenz abgehalten, auf der die aktuelle Situation dargestellt und Empfehlungen an die Bevölkerung wiederholt wurden.

Im April verfolgten online und über die Medien im Tagesdurchschnitt fast zwei Millionen Menschen diese Informationsveranstaltungen - bei einer Gesamtbevölkerung von nur zehn Millionen Menschen. Nur dieser gesellschaftliche Rückhalt und das wechselseitige Vertrauen erlaubten eine Strategie der Empfehlungen.

Auf Einsicht und Freiwilligkeit zu setzen, wird häufig dahingehend missinterpretiert, dass die schwedischen Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Infektionen weniger streng angelegt waren oder kaum eingehalten wurden. Tatsächlich wirkten die Empfehlungen der Behörden schnell sozial normativ und wurden ein vielleicht wirkungsvollerer Katalysator für Verhaltensänderungen, als es Vorschriften vermögen. Der Inlandsflugverkehr kam fast vollständig zum Erliegen, der Gastronomie blieben die Gäste weg und aufgrund besserer Hygiene und physischer Distanzierung endete die Grippesaison abrupt bereits im März, Monate früher als für gewöhnlich.

Schwedens Minderheitsregierung aus Sozialdemokraten und Grünen, die von zwei liberalen Parteien unterstützt wird, folgte den Empfehlungen der Gesundheitsbehörde fast durchgängig. Die größte Unterstützung erhält diese Politik aus dem linken und liberalen Spektrum. Die härteste Kritik daran kommt von den rechtsnationalistischen Schwedendemokraten. Ihr Parteivorsitzender Jimmie Åkesson forderte sogar den Rücktritt des Staatsepidemiologen Anders Tegnell. Diese Trennlinie mag für Deutschland, wo Rechtsextremisten gegen Maßnahmen und Beschränkungen wegen Corona am lautesten wettern, als verkehrte Welt erscheinen.

Für Schweden schließt die Rhetorik der Schwedendemokraten an bekannte Muster an: Bereits während der Flüchtlingskrise 2015 argumentierten die Schwedendemokraten mit einem angeblich drohenden Zusammenbruch des Wohlfahrtsstaats ohne Schließung der Grenzen. Die sozialdemokratische Regierung bezeichneten sie als »naiv«. Bei ihrer Darstellung als Retter der autochthonen Schweden befürworten sie nun eine autoritärere Politik. Ihre Rhetorik von damals lässt sich Aussage für Aussage auf die Coronakrise übertragen. Viele Schweden sehen daher in den drastischen Maßnahmen, die im Zuge der Pandemie anderswo ergriffen werden, vor allem Populismus.

Internationalen Medien ist es nur selten gelungen, ein stimmiges Bild des schwedischen Debattenklimas zu vermitteln. Das hat, gewollt oder ungewollt, zur Verbreitung von allerlei Mythen über Schwedens Umgang mit Corona beigetragen. Hinzu kommen Verschwörungstheorien und Desinformationen aus dem rechtsextremistischen Umfeld in Schweden, die das Vertrauen der Menschen in die Behörden untergraben wollen.

Immer wieder wurde behauptet, Stockholm habe wirtschaftliche Interessen über das Leben und die Gesundheit der Bürger gestellt. Auch hieß es, die Gesundheitsbehörde würde im Grunde mit einer Strategie der Herdenimmunität arbeiten. Beide Behauptungen haben keine Basis. Auf den Pressekonferenzen der Gesundheitsbehörde sieht sich Staatsepidemiologe Tegnell dennoch gezwungen, die immer wiederkehrende selbe Frage von »Le Monde«, »Financial Times« oder ARD zu beantworten: »Welche Rolle spielt die Herdenimmunität für die schwedische Strategie?« - »Überhaupt keine.«

Die verfestigten Vorurteile dazu, worauf der schwedische »Sonderweg« hinzielt und was er in der Praxis bedeutet, hätten nicht deutlicher werden können als in einer Talkshow von Anne Will Ende September. Da wurde etwa behauptet, Schweden habe mit seiner Strategie bewusst ältere Menschen »geopfert«. An die Stelle eines solchen Meinungskampfes sollte endlich eine sachliche Debatte über die Erfolge und Misserfolge Schwedens bei der Eindämmung der Pandemie unter den konkreten Bedingungen dieses Landes treten.

Philip Franzén ist freier Journalist, der Schwede arbeitet in Berlin und Malmö. Seit Beginn der Pandemie setzt er sich mit den verschiedenen Strategien im Umgang mit Corona auseinander.

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