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Sozio- ökonomische Gegensätze

Christoph Butterwegge macht sich Gedanken über Krisenbewältigungsstrategien

  • Lesedauer: 7 Min.

Bis das als Sars-CoV-2 bezeichnete Coronavirus im Winter 2019/20 die Bundesrepublik Deutschland erreichte, war der verharmlosend »Klimawandel« genannte Prozess einer sich rapide beschleunigenden Erderwärmung in aller Munde, und zwar völlig zu Recht. Denn

zahlreiche Indizien deuten darauf hin, dass die vermehrte Emission von Treibhausgasen die Existenz der Menschheit in nicht allzu ferner Zeit gefährdet. Die drohende Klimakatastrophe darf allerdings genauso wenig wie die Covid-19-Pandemie von der wachsenden Ungleichheit ablenken. Diese zu verringern und zu überwinden bleibt die politische Hauptaufgabe verantwortungsbewusster Menschen. Nur auf den ersten Blick überzeugt nämlich der Einwand, dass es vordringlicher sei, die für das Leben auf unserem Planeten zentralen ökologischen und viralen Probleme zu lösen, als eine Transformation des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems in Angriff zu nehmen. Schaut man genauer hin, wird deutlich, dass kaum etwas der Gesundheit mehr schadet und nichts ökologische Nachhaltigkeit mehr verhindert als die sozioökonomische Ungleichheit.

Wir leben in einer Welt der Ungleichheit, aber trotz medialer Beschwichtigungsversuche auch in einer Gesellschaft der Ungleichheit. Glaubt man der internationalen Hilfs- und Entwicklungsorganisation Oxfam, besitzen 162 Multimilliardäre so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Daraus erwachsen ökologische, ökonomische und Finanzkrisen sowie Kriege und Bürgerkriege, die wiederum größere Migrationsbewegungen nach sich ziehen. Hierzulande besitzen nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) 45 sehr reiche (Unternehmer-)Familien so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung, d. h. über 40 Millionen Menschen. Zwar sind die Einkommen deutlich weniger ungleich verteilt als die Vermögen, driften aber ebenfalls auseinander.

Im vorliegenden Buch werden zunächst Schlüsselbegriffe wie »Ungleichheit«, »Armut« und »Reichtum« geklärt, deren Reproduktionsmechanismen und Legitimationsgrundlagen diskutiert sowie mit Blick auf das Streben nach menschlichem Glück und ökologischer Nachhaltigkeit die Vorzüge der Gleichheit erörtert. Das zweite Kapitel stellt wichtige Theorien der Ungleichheit und bekannte Theoretiker vor, die Klassen (und Schichten) als Verkörperung der sozioökonomischen Interessengegensätze begreifen. Im dritten Kapitel geht es um die Manifestation der Ungleichheit in der Sozialstruktur - thematisiert werden die Klassenverhältnisse im heutigen Finanzmarktkapitalismus. Das vierte Kapitel dreht sich um die wichtigsten Erscheinungsformen der Ungleichheit, womit nicht bloß die Einkommens- und Vermögensverteilung gemeint ist. Ausführlich berücksichtigt wird vielmehr unter Verweis auf die Coronakrise auch das Thema der Gesundheits-, Bildungs- und Wohnungleichheit.

Aufmerksame Leser/innen, denen es die nach inhaltlichen Kriterien gegliederte Literaturauswahl am Buchende ermöglichen soll, einzelne Aspekte des Themas zu vertiefen, dürften eine ausführliche Erörterung von politischen Forderungen und Gegenstrategien vermissen. Der begrenzte Umfang dieses Buches machte es notwendig, die Entstehungsursachen der Ungleichheit und daraus abzuleitende Lösungsansätze in einem Folgeband zu behandeln. Dieser wird sich mit notwendigen Maßnahmen der Umverteilung von oben nach unten beschäftigen und argumentieren, dass sich Gegenstrategien nicht darauf beschränken dürfen, wenn die Reproduktion der sozioökonomischen Ungleichheit dauerhaft unterbunden werden soll …

Corona und gesundheitliche Ungleichheit: Wer arm ist, muss eher sterben

Der flapsige Spruch »Lieber reich und gesund als arm und krank!« erinnert daran, wie entscheidend das körperliche und das seelische Wohlbefinden für die menschliche Existenz sind. Wer krank ist, wird für arm erklärt, und Gesundheit mit Reichtum auf eine Stufe gestellt. Die aus dem frühen Industriezeitalter bekannten Extremformen gesundheitlicher Ungleichheit haben sich keineswegs verflüchtigt. Vielmehr treffen manche Krankheiten die Mitglieder der einzelnen Klassen und Schichten bis heute sowohl in unterschiedlicher Häufigkeit wie auch in unterschiedlicher Schwere. »Nicht zufällig treten Herz-Kreislauf-Erkrankungen in den Unterschichten weitaus häufiger auf als in den Oberklassen, und psychische Erkrankungen liegen am Sockel der Sozialhierarchie um 40 Prozent über der Rate an ihrer Spitze.«

Transferleistungsbezieher/innen leben oft in verkehrs-, emissions- und schadstoffreichen bzw. lauten Stadtteilen und schlechten Wohnverhältnissen (z. B. in Mietskasernen und sanierungsbedürftigen Alt- oder Plattenbauten). Sofern als »Aufstocker/innen« erwerbstätig, haben sie eher schadstoffbelastete oder aus anderen Gründen ungesunde Jobs, aber auch einen schlechteren Zugang zu medizinischer Versorgung als die große Mehrheit der Bevölkerung. Hartz IV macht nicht bloß viele Menschen krank - sei es, dass sie als Grundsicherungsempfänger/innen von ihrem »persönlichen Ansprechpartner« im Jobcenter schikaniert werden, sei es, dass sie mit den dürftigen SGB-II-Regelsätzen ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können und überschuldet sind, sei es, dass sie unter der Stigmatisierung als »Hartzer« leiden, oder sei es, dass sie als prekär Beschäftigte nicht mehr ruhig schlafen können, weil sie Angst vor der Entlassung haben. Hartz IV ermöglicht den davon Betroffenen auch keine optimale medizinische Versorgung, vor allem dann nicht, wenn sie das Jobcenter sanktioniert, d. h. mit Leistungsentzug für Pflichtverletzungen und Meldevergehen bestraft.

Armut macht krank und Krankheiten, die eine aufwendige medizinische Behandlung oder die Einnahme teurer Medikamente erfordern, machen auch viele Menschen arm, besonders im Alter. In einem höheren Lebensalter steigen die Kosten für ärztliche Behandlungen, Arznei-, Heil- und Hilfsmittel, Krankenhausaufenthalte sowie Pflegedienstleistungen in einem Gesundheitssystem, das im Zeichen des Neoliberalismus zunehmend ökonomisiert, privatisiert und kommerzialisiert wurde. Gerade viele Senior(inn)en sind dadurch finanziell überfordert. Die für den Erhalt bzw. die Wiederherstellung der Gesundheit notwendigen Aufwendungen steigen, während ihre Einkommen im Ruhestand eher sinken. Dadurch sind Ältere, die in der Regel höhere Krankheits- und Pflegekosten schultern müssen, stärker armutsgefährdet. Eine schwere Krankheit, eine Behinderung oder die Pflegebedürftigkeit der Eltern führte bis zum Inkrafttreten des Angehörigen-Entlastungsgesetzes am 1. Januar 2020 außerdem häufig zur Armut erwachsener Kinder.

Man könnte meinen, dass vor einem Virus alle gleich sind. Bezüglich der Infektiosität von Coronaviren trifft diese Aussage zu, im Hinblick auf das Infektionsrisiko allerdings nicht. So traf die Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 alle Menschen, aber mitnichten alle gleichermaßen. Je nach Arbeitsbedingungen, Wohnverhältnissen und Gesundheitszustand waren sie vielmehr ganz unterschiedlich betroffen. Wegen der niedrigen Lebenserwartung von Armen, die rund zehn Jahre geringer ist als die Lebenserwartung von Reichen, gilt selbst in einer wohlhabenden, wenn nicht reichen Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland die zynische Grundregel: Wer arm ist, muss früher sterben. Während der Coronapandemie galt: Wer arm ist, muss eher sterben. Denn das Infektionsrisiko von Arbeitslosen und Armen war deutlich höher als das von Reichen.

Der Düsseldorfer Medizinsoziologe Nico Dragano hat zusammen mit einigen Kolleg(inn)en untersucht, ob die Covid-19-Pandemie und die Infektionsschutzmaßnahmen die gesundheitlichen Ungleichheiten verschärfen. Ihre auf Daten der AOK Rheinland/Hamburg basierende Studie ergab einen Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Unterschieden (v. a. in Bezug auf das Einkommen, den Bildungsgrad sowie die berufliche Position) und der Häufigkeit von schweren Verläufen einer Coronainfektion. Gegenüber den erwerbstätigen Versicherten hatten Arbeitslosengeld-I-Bezieher/innen im Untersuchungszeitraum vom 1. Januar bis zum 4. Juni 2020 ein um 18 Prozent, Arbeitslosengeld-II-Bezieher/innen sogar ein um 84 Prozent erhöhtes Risiko für einen Covid-19-bedingten Krankenhausaufenthalt.

Als mögliche Gründe für diese gravierenden Unterschiede nannten die Autor(inn)en der Studie vornehmlich Ungleichheiten in der Exposition, in der Vulnerabilität, in der medizinischen Versorgung und hinsichtlich der Auswirkungen von Infektionsschutzmaßnahmen.

Seuchen haben in der Vergangenheit oftmals zur Verringerung der Ungleichheit beigetragen, wenn auch nur für eine gewisse Zeit. Walter Scheidel spricht in diesem Zusammenhang von einem »Quartett apokalyptischer Reiter« der sozioökonomischen Nivellierung, wozu er neben den Massenmobilisierungskriegen, transformativen Revolutionen und Verwerfungen, die ein völliger Staatszusammenbruch auslöst, eben auch Länder und sogar Kontinente übergreifende Epidemien zählt: »Die Pandemien waren […] ein Mechanismus, der eine ungeheuer brutale, aber nicht nachhaltige Komprimierung der Einkommens- und Vermögensungleichheit bewirkte.« Dies geschah etwa bei der mittelalterlichen Pest, die in Europa ab 1347 unzählige Menschen aller Stände dahinraffte, zumindest für eine gewisse Zeit. Scheidel sieht den Hauptgrund dafür im Verfall der Lebensmittel-, Boden- und Immobilienpreise (aufgrund fehlender Bewohner/innen) einerseits sowie im Anstieg der Löhne (aufgrund fehlender Arbeitskräfte und einer gestärkten Verhandlungsposition der überlebenden gegenüber ihren Arbeitgebern) andererseits. Ungleich verteilt waren jedoch die Überlebenschancen, denn die Vermögenden konnten sich aus den Städten auf ihre Landsitze zurückziehen, um die Ansteckungsgefahr zu verringern.

Ungleichheit ist keine anthropologische Konstante, sondern von Menschen gemacht oder im Prozess ihrer Entstehung wesentlich beeinflusst und daher immer auch reversibel …

Christoph Butterwegge:
Ungleichheit in der Klassengesellschaft

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