- Politik
- Corona und Armut
Risse im sozialen Netz
In Frankreich werden die Lücken der sozialen Absicherung in der Coronakrise drastisch deutlich
Der feine Nieselregen erlaubt den Menschen, ihr Gesicht unauffällig hinter Schirmen und Kapuzen zu verbergen. Vor allem denen, die hier neu sind, ist es peinlich, als Bittsteller erkannt zu werden. Sie stehen in einer immer länger werdenden Schlange vor dem Ausgabepunkt des Secours populaire. Auch die 23-jährige Studentin Jeanne N. packt einen kleinen Lebensmittelvorrat für die Woche ein. Eier, Milch, Reis, Nudeln. »Was man halt unbedingt braucht. Ich habe ja noch etwas Geld, um andere Artikel dazuzukaufen«, sagt sie, »aber ohne die Hilfe von hier käme ich nicht hin.« Sie bezieht kein Stipendium, die Eltern kommen mit dem schmalen Gehalt des Vaters selbst kaum aus, kleine Gelegenheitsjobs sind wegen der Coronakrise weggefallen. Nun ist es hin und wieder etwas Hilfe im Haushalt alter Leute, die Jeanne geblieben ist - im beiderseitigen Interesse bar auf die Hand und an der Steuer vorbei.
Jean C.hat durch Corona seinen festen Arbeitsplatz verloren. Jetzt klagt er vor dem Arbeitsgericht gegen den Firmenchef, der offensichtlich die Epidemie als Vorwand benutzt hat, um Personal abzubauen, ohne sich an die Regeln des Arbeitsrechts zu halten. Doch auch bei Gericht wird kurzgearbeitet, das Verfahren zieht sich. Und da über seinen Antrag auf Arbeitslosengeld ebenfalls noch nicht entschieden wurde, ist Jean auf die Lebensmittelhilfe hier angewiesen.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
François P. war bis Anfang des Jahres Zeitarbeiter, zuletzt acht Monate lang bei Renault in Flins. Bei Ausbruch der Epidemie wurde der 31-Jährige wie alle anderen Zeitarbeiter von einem Tag zum anderen entlassen. »Nach vier Monaten Arbeitslosigkeit habe ich inzwischen wieder kurzzeitige Jobs gefunden«, sagt er. »Früher habe ich gern für die Zeitarbeitsagentur gearbeitet. Das war abwechslungsreich, und ich habe recht gut verdient. Das ist vorbei. Jetzt nehme ich alles, was mir angeboten wird, auch wenn der Lohn gering ist. In diesen Zeiten kann man nicht wählerisch sein.«
Weil sie drei Kinder haben, von denen das jüngste erst 13 Monate alt ist, kann seine Frau als Arzthelferin nur in Teilzeit arbeiten. »Aber selbst wenn sie voll arbeiten könnte, würde sie nur 1300 Euro verdienen«, sagt François. »Bei 900 Euro Miete und den anderen festen Kosten bleibt fürs Leben wenig übrig. Jetzt ist das Bankkonto schon 10 oder 14 Tage leer und wir geraten in die roten Zahlen. Besonders vor den steigenden Kosten im Winter ist uns bange, denn unsere Wohnung wird elektrisch geheizt.« Weil das Geld vorn und hinten nicht reicht, steht François jetzt für Lebensmittel an. »Auch wenn es mir peinlich ist«, sagt er.
In dieser Situation sind jetzt viele. »Wir bekommen immer wieder zu hören: Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal hier lande«, sagt Julien P., einer der Helfer. Allein dieser Ausgabepunkt versorgte früher pro Woche 330 Familien, heute sind es 450. Bei Alleinstehenden stieg die Zahl sogar von 390 auf 1100. Die Hilfsorganisation Secours populaire, deren Ursprünge auf die 1924 gegründete Rote Hilfe Frankreichs zurückgehen, wurde 1945 von ehemaligen kommunistischen Résistanceteilnehmern neu gegründet, um nicht der klerikalen Hilfsorganisation Secours catholique das Feld zu überlassen.
Erst in diesem Jahr ist im Alter von 93 Jahren der charismatische Julien Lauprêtre gestorben, der die Organisation von 1955 bis 2019 geleitet hat. Dem Budget nach belegt sie in Frankreich den dritten Platz nach dem Roten Kreuz und dem Secours catholique, aber der Zahl der freiwilligen Helfer nach steht sie weit an der Spitze. Es sind 80 000, die in landesweit 600 Ortskomitees mit fast 1000 Ausgabepunkten regelmäßig 2,5 Millionen Menschen helfen. »In den besonders kritischen Wochen der Coronakrise waren es noch eine Million mehr«, sagt Houria Tareb, die seit vergangenem Jahr Vorsitzende des Secours poulaire ist.
»Durch Corona ist die Armut in Frankreich regelrecht explodiert«, stellt sie fest. »Unsere Dauerkunden waren bisher vor allem alleinstehende Mütter mit ihren Kindern, Familien mit prekärem Einkommen oder Alte mit einer ganz schmalen Rente, etwa weil sie zeitlebens selbstständig waren und wenig einzahlen konnten.« Jetzt seien immer mehr junge Menschen zu sehen. Vor allem Studenten. Die hielten sich früher mit Gelegenheitsjobs über Wasser, etwa in der Gastronomie. Durch die Epidemie ist dies weggebrochen. »Was sie von zu Hause bekommen, reicht oft gerade für die Miete, aber nicht fürs Leben. Hier müssen wir einspringen«, sagt Houria Tareb.
Probleme hat die Organisation gegenwärtig mit dem Nachschub an Lebensmitteln. Aber mehr noch mit dem Mangel an Helfern. »Die meisten sind im Rentenalter und verwenden einen Teil ihrer freien Zeit, um uns zu unterstützen«, erläutert Houria Tareb. »Doch weil sie stärker als alle anderen Altersgruppen durch das Virus gefährdet sind und man bei einer Erkrankung um ihr Leben fürchten müsste, haben wir sie gebeten, für einige Monate zu Hause und damit in Sicherheit zu bleiben.«
Um sie zu ersetzen, wurde per Aufruf in den Medien nach neuen Helfern gesucht. »Die Reaktion war überaus positiv. Viele neue, jüngere Menschen sind gekommen, Studenten oder Leute in Kurzarbeit. Doch als dann das neue Studienjahr begann und Unternehmen nach und nach die Produktion hochfuhren und ihre Mitarbeiter zurückriefen, standen wir wieder mit unserem Kräftemangel da. Dieses Problem wird uns wohl noch eine Weile begleiten«, sagt Houria Tareb.
Die steigende Armut hat bis auf die Lebensmittelbanken durchgeschlagen, die landesweit 5400 Hilfsorganisationen beliefern. Der Bedarf sei um 25 Prozent gestiegen, stellt Laurence Chamoeri fest, die Generaldirektorin der Föderation der französischen Lebensmittelbanken. »Da so viele unverkaufte Lebensmittel bei den Handelsketten nicht anfallen, mussten wir unsere Lagerreserven angreifen und auch Lebensmittel hinzukaufen.« Dafür hat Olivier Véran, Minister für Gesundheit und Solidarität, außerplanmäßige Mittel bereitgestellt. Auf einer Pressekonferenz im September räumte der Minister ein, dass gegenwärtig in Frankreich acht Millionen Menschen auf Lebensmittelhilfe durch die Vereine angewiesen seien. Vor einem Jahr waren es noch 5,5 Millionen.
Die Restos du Coeur (Restaurants des Herzens) gehören zwar nicht zu den größten Hilfsvereinen in Frankreich, aber sicher zu den bekanntesten. Die Organisation wurde 1985 von dem Filmkomiker Coluche gegründet, der mit bürgerlichem Namen Michel Colucci hieß und anfangs vor allem unter Künstlern Spenden sammelte und mit ihnen Benefizkonzerte veranstaltete. Seit Coluche 1986 bei einem Motorradunfall gestorben ist, funktionieren die Restos du coeur als Stiftung weiter. Die Organisation, die anfangs Volksküchen unterhielt - daher der Name -, verteilt jetzt vor allem Lebensmittel und Kleidung. Daneben hilft sie auch bei der Suche nach Arbeit und einer Wohnung, berät Familien bei der Einteilung ihres Budgets und verteilt Mikrokredite, organisiert Hausaufgabenhilfe oder billige Ausflüge und Ferienaufenthalte.
Die Restos du coeur betreiben mehr als 2000 Verteilzentren. »Mit der Virusepidemie ist über uns ein regelrechter sozialer Tsunami hereingebrochen«, meint Patrice Blanc, der Präsident der Organisation. »Der Bedarf an Lebensmittelhilfe ist regelrecht explodiert. In unseren Verteilzentren, wo wir Grundnahrungsmittel ausgeben, beträgt die Steigerung nur fünf bis zehn Prozent. Dagegen ist der Bedarf auf der Straße, wo wir verzehrfertige Lebensmittel an Obdachlose verteilen, um mehr als 40 Prozent in die Höhe geschnellt.«
Besonders ernst sei die Lage in der Pariser Region und in anderen Großstädten, während die Probleme auf dem Lande dadurch gemildert sind, dass sich viele Familien mit Gemüse aus dem eigenen Garten, mit Eiern und Kleinvieh selbst helfen können. Besondere Sorgen bereitet es Patrice Blanc, dass die Hilfesuchenden immer jünger werden. »Die Hälfte derer, denen wir heute helfen, sind jünger als 25 Jahre.«
Diese Altersgruppe wird in Frankreich von keinem sozialen Netz aufgefangen. »Wenn diese jungen Menschen sich von ihrer Familie getrennt haben oder diese von ihnen, leben sie oft nur von Gelegenheitsjobs, die jetzt mit der Coronaepidemie zumeist weggefallen sind«, stellt der Präsident der Restos du coeur fest. »Darum fordern wir, dass das ›Solidaritätseinkommen‹ RSA, das es heute erst ab 26 Jahren gibt, künftig auch auf die 18- bis 25-Jährigen erweitert wird.« Beim RSA (Revenue de solidarité active), das die frühere Sozialhilfe abgelöst hat, handelt es sich um ein Minimaleinkommen für Beschäftigungslose, die keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben. Um die Rückkehr in die Arbeitswelt zu fördern, wird es zusätzlich zum Lohn eine Zeit lang weitergezahlt, wenn der Bezieher wieder eine Arbeit gefunden hat. Je nachdem, ob man allein oder als Paar lebt und wie viele Kinder man hat, staffelt sich das RSA von 565 Euro im Monat bis 1200 Euro. »Damit handelt es sich sowieso schon nur um eine Überlebenshilfe«, stellt Patrice Blanc fest.
Pascal Brice, Präsident der Föderation der Akteure der Solidarität, Dachverband von landesweit 850 Vereinen und Organisationen, die gegen sozialen Abstieg und Armut kämpfen, konstatiert, dass durch die Coronakrise zu den bisher 9,3 Millionen Franzosen, die unter der statistischen Armutsgrenze von heute 1063 Euro pro Person leben, bereits eine Million hinzugekommen ist. Wie viele es noch werden, hängt von der Entwicklung der Arbeitslosigkeit ab. Bis Ende des Jahres werden nach Hochrechnungen mindestens 800 000 Arbeitsplätze verloren gehen. Die Banque de France rechnet damit, dass die Arbeitslosenrate für 2020 bei zehn Prozent liegen wird und im ersten Halbjahr 2021 auf elf Prozent klettern könnte.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.