Drei Begegnungen mit Marx

  • Reina Darsen
  • Lesedauer: 3 Min.

November 1989. In unserer Kleinstadt nahe der Dübener Heide versammelten sich die Einwohner auf Plätzen und Straßen. Eine Bewegung, wie sie sich auch in vielen anderen Städten bereits zeigte. Anlass war die Unzufriedenheit der Bürger mit der Politik der Regierung, was auch meinen Nerv traf. In Leipzig und auch in Berlin entlud sich diese Unzufriedenheit in Großdemonstrationen, wie man den Medien entnehmen konnte. Die Stimmung unter Freunden und Nachbarn war »zum Anfassen«, teils euphorisch, teils bedenklich, und ungewohnt dialogbereit. Man spürte es, in den Köpfen der Menschen regte sich Widerstandsgeist. »So kann es nicht weitergehen!« war das »Amen« jeder Diskussion.

Kennwort: Wende
Liebe Leserinnen und Leser, gut 30 Jahre ist es her, dass sich in der DDR die politischen Verhältnisse grundlegend änderten und die Reise immer schneller und schließlich unwiderruflich in Richtung deutsche Einheit ging.

Reina Darsen erinnert sich an drei Begegnungen mit Karl Marx, die ganz unterschiedliche Gedanken bei ihr auslösten.

Alle, die die Wende- und Vereinigungszeit erlebten, verbinden damit prägende persönliche Erlebnisse und Erinnerungen - im Positiven wie im Negativen.

Eines Morgens, auf meinem Weg zur Arbeit entdeckte ich an der Wegbiegung zur Hauptstraße ein Schild, das am Abend vorher dort noch nicht gestanden hatte, unübersehbar, etwa einen mal anderthalb Meter groß. »Proletarier aller Länder verzeiht mir« stand in großen Lettern darauf, dahinter das Konterfei von Karl Marx. Da hatte ich eine Vorahnung, dass die Illusionen für einen Neubeginn gespalten waren. Gespalten in diejenigen, die sich einen demokratischen Wandel in Politik und Wirtschaft der DDR wünschten, und jene, die gar das Rad der Geschichte zurückdrehen wollten. Wer den »Weckruf« im Kommunistischen Manifest auf diese Weise verballhornt, tritt eine humanistische Idee mit Füßen, fand ich. Kopfschüttelnd ging ich weiter.

Tage später begegnete ich einer Bekannten. Am Abend zuvor hatte sie an einer der Montagsdemonstrationen in Leipzig teilgenommen, denen man später den Namen »Friedliche Revolution« gab. Wieso eigentlich Revolution, frag ich mich heute immer wieder. Ganz aufgeregt, ja fast euphorisch, berichtete sie von diesem Ereignis. »Und weißt du«, sagte sie am Ende ihres Berichts aus tiefer Überzeugung: »Es ist nicht das Sein, das das Bewusstsein bestimmt, sondern genau umgekehrt: Das Bewusstsein bestimmt das Sein«! Das habe ihr diese Demonstration gezeigt.

Auch sie beruft sich auf Marx, dachte ich, aber warum stellt sie diese philosophische Erkenntnis auf den Kopf? Ich fragte sie, was sie eigentlich zu dieser Demo getrieben habe und warum sie sich gerade jetzt von dieser Aufbruchstimmung so einnehmen lässt. Warum sie nicht schon viel früher ihrem Bewusstsein Ausdruck gegeben habe. Nachdenklich sah sie mich an. In ihrem Gesicht las ich Zweifel. Jetzt denkt sie wohl anders darüber, schloss ich daraus, jedenfalls deutete ich es so, während ich nun selbst über eine Wechselwirkung dieser Weisheit nachdachte. Ich schlussfolgerte: Sein und Bewusstsein bedingen einander. Aber keineswegs kann man das Bewusstsein voranstellen. Das bewiesen uns doch schon die Entwicklungsstufen der Spezies Mensch seit der Urgesellschaft. Wir trennten uns, jeder in seine Gedanken versunken.

Dann las ich in irgendeiner linken Schrift: »Wir müssen Marx neu lesen.« Nun ja, das hatten wir schon, erinnerte ich mich. Neu gelesen wurde er ja schon seit den 70er Jahren im vorigen Jahrhundert, immer angepasst an die jeweilige wirtschaftliche oder politische Situation. Dafür gab es in der DDR die Broschüre »Die Einheit«, in der man das nachlesen konnte. Was meint man aber jetzt mit »neu lesen«? Jeder, wie er es braucht oder möchte - sich streiten darüber, wessen »Neuheit« die bessere ist? Vielleicht sollten wir ihn überhaupt wieder einmal lesen, damit wir erkennen, dass er im Original immer noch seine Gültigkeit hat.

Wenn ich mich heute in Gesprächen auf Marx berufe, verbindet man das zumeist mit einem großen Aber. Dabei braucht man doch nur das von zwei humanistischen Denkern 1847 verfasste Werk, das sie »Manifest der Kommunistischen Partei« nannten und das ein Jahr später weltweit verbreitet seine Leser fand, wieder einmal zur Hand zu nehmen, um Ursache und Wirkung historisch richtig zu platzieren, und sich über das Entstehen der gewaltigen Kluft zwischen Reichtum und Armut ein Bild machen.

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