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TV und Print, die Ursuppe allen Übels
Best of Menschheit, Teil 44: Soziale Netzwerke
Stand jetzt sind soziale Netzwerke die Ursache oder ein Symptom für den Verfall von privater und geschäftsmäßiger Kommunikation, Verrohung und Enthemmung, der Hauptgrund für das Ausbleiben monetärer Wertschätzung geistiger Arbeit - das alles entnehme ich vor allem Beiträgen auf sozialen Netzwerken. Twitter ist Gekeife, holt die Niedertracht aus den Leuten, Instagram ist eitle Selbstvermarktung samt verlogenem Körper- und Weltbild, Facebook ein Tummelplatz für Boomer und ihre späten Rebellionen gegen irgendwas, während die Jugend auf TikTok zu allem dumm tanzt; derweil gigantische Firmen freiwillig abgegebene Daten sammeln und handeln, dass Erich Mielke im Grab rotiert vor Verwunderung. So oder so ähnlich stellt sich das wohl dar, und es ist wahrscheinlich auch wirklich nicht das, was man sich als Freund einer Assoziation freier Menschen wünscht.
Und doch scheinen mir, ohne den Versuch der Objektivität zu unternehmen, soziale Netzwerke, auch wenn sie eher Plattformen des Informationshandels sind, die freieste Form der Massenkommunikation zu sein, die die Menschheit bisher zustande gebracht hat. Es mag sein, dass in den Zeiten der gedruckten Massenmedien der Konsument sich nicht selbst zu so etwas wie einer Ware machen musste, um an Informationen und Meinungen zu gelangen, doch war die Freiheit des Gedruckten vor allem die Freiheit des Verlegers, Anzeigen nach seinem Gusto mit Artikeln zu umranken (oder Parteien zu entsprechen). Und die vermeintliche Meinungsvielfalt war ein Luxus, der das Geld und die Zeit verlangte, gleich mehrere Druckerzeugnisse zu studieren. Mit dem Ergebnis, dass Zeitungen und Zeitschriften mit ihrem Publikum Blasen bildeten, die viel schwieriger zu verlassen waren, als das heute bei digitalen Medien der Fall ist.
Auch war Print keinesfalls weniger anfällig für Fake News, ich würde fast vermuten, der Abstand zum wütenden Leserbriefschreiber erhöhte die Anfälligkeit für fröhliche Lügen und arrogante Selbstgefälligkeiten. Die »Bild« verbreitete in den 1980ern für ihr Millionenpublikum regelmäßig Meldungen über Alienlandungen in der Sowjetunion und Ähnliches; und es ist gerade Teil ihres Auflagensturzes, dass sie so einen Quatsch dank sozialnetzwerklicher Aufmerksamkeit nicht mehr machen kann. Und wer glaubt, das war damals nur das böse Springer-Reich, der klicke sich einmal durchs »Spiegel«-Titelarchiv, um eine Ahnung zu bekommen, welch Paralleluniversen da entworfen wurden, als noch jede dritte Seite Werbung war.
Das Fernsehen wiederum war und ist den bösen Netzavatarbörsen mindestens in der Ausstellung pseudoauthentischer Peinlichkeit ebenbürtig. Die Casting- und Reality-TV-Welt ist durchaus die logische Konsequenz dieses Mediums, und die nachmittägliche Talkshowhölle, die der Seelenpeinbeschau des Internets vorausging, war deutlich unsympathischer, weil das Feixen nicht zu blocken, ja noch viel offensichtlicher Programm war.
Vielleicht bin ich naiv, aber ich hielt von Beginn an soziale Netzwerke für Stände in digitalen Messeräumen, an denen jede*r ausstellt, was und für wen er will. Dass auch einmal ein paar vorbeikommen und in die Auslage kotzen, das kann man verkraften, weil das Aufräumen mit Zeit und Erfahrung recht einfach ging. Zudem bin ich wie nie zuvor in meinem medialen Dasein zu Sichtweisen und Haltungen von Menschen gelangt, die mir aufgrund meiner sozialen und sonstigen Dispositionen zuvor verschlossen geblieben waren. Ich musste niemanden ansprechen, um zuhören und bestenfalls verstehen zu können.
Ich habe keine Ahnung, was mit den Daten und ihren Kategorisierungen geschehen wird, wenn sich kapitalistische Gesellschaften in den kommenden Krisen weiter faschisieren. Ich fürchte, es wird kein Vergnügen. Für den Moment bin ich den sozialen Netzwerken aber dankbar für die Menschen, die mir ohne sie wahrscheinlich entgangen wären.
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