Selbstbestimmt und kieznah im Alter

Grünen-Fraktion kritisiert Pflegepolitik als nicht nachhaltig genug und legt neues Strategiepapier vor

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus will nichts Geringeres, als die Pflegesituation in Berlin umfassend reformieren und »von unten« umkrempeln, so Fatoş Topaç. Die Fraktionssprecherin für Sozialpolitik und Pflegepolitik zeichnet mitverantwortlich für ein umfangreiches Papier, mit dem genau das vorangetrieben werden soll. »Es war ein Heidenstück Arbeit«, sagt Topaç zu »nd«.

»Die bestmögliche Pflegepolitik ist die, die Pflegebedürftigkeit erst gar nicht entstehen lässt beziehungsweise diese hinauszögert« heißt es in dem Papier mit dem Titel »Pflege neu denken – Pflege stark machen: Für eine gute pflegerische Versorgung und attraktive Arbeitsbedingungen in der Berliner Pflege«. Es liegt »nd« exklusiv vor.

In Berlin sind derzeit rund 120 000 Menschen pflegebedürftig. Prognosen gehen von bis zu 170 000 Pflegebedürftigen bis zum Jahr 2030 aus. Nur rund ein Viertel der Menschen wird in stationären Einrichtungen versorgt. 76 Prozent der Pflegebedürftigen bleiben, oft auf eigenen Wunsch hin, zu Hause und werden von über 550 ambulanten Pflegediensten, rund 200 000 Angehörigen oder von beiden gepflegt. In Brandenburg sind es sogar 82 Prozent.

Bei drei Viertel der Fälle sind es Frauen, die pflegen – »eine untragbare Ausbeutungssituation«, findet die Grünen-Politikerin Topaç. Sie will die Situation von pflegenden Angehörigen massiv verbessern, vor allem bei Menschen, die soziale Leistungen beziehen. Bei ihnen soll zum Beispiel ein Pflegegeld nicht mehr auf die Hartz IV-Bezüge angerechnet werden.

Nicht nur, aber gerade in Berlin sind längst nicht ausschließlich Menschen betroffen, die in der DDR oder der Bundesrepublik geboren wurden und nun in der Region alt werden. Pflege, so heißt es dazu im Grünen-Papier, betrifft auch immer mehr die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe älterer Migrant*innen, zudem aber auch Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen, Illegalisierte, Obdachlose und Geflüchtete. Das Pflegesystem und die Angebote müssten also inklusiver werden.

Auch die Unterstützungsstrukturen für Familien mit chronisch erkrankten und pflegebedürftigen Kindern sollten verbessert werden. Dies dürfte vor allem eine Personalfrage sein. Der Mangel an Fachkräften sei kein Geheimnis, so Topaç. Diesen müsste zugestanden werden, sich selbstbestimmt in Pflegekollektiven zusammenzuschließen, um sich selbst im Umfeld organisieren zu können – ohne Zeitstress, mit Kontinuität und ohne Fluktuation im Team. Dass das geht, zeigten die Beispiele des holländischen Pflegekollektivs Buurtzorg, bei dem mittlerweile 10 000 Menschen beschäftigt sind, oder auch, viel kleiner, das Schöneberger Frauen-Pflege-Kollektiv Ambulante Krankenpflege Berlin.

Um die Arbeitsbedingungen von Pflegekräften attraktiver zu machen, sollen Auszubildende und Ausbilder besser gefördert werden, Azubis beispielsweise an Austauschprogrammen wie Erasmus teilnehmen können. Für die Beschäftigten, die schon seit Jahren unter dem Fachkräftemangel leiden, dürfte derzeit die geforderte Verbindlichkeit und Verbesserung der Personalbemessung der wichtigste Punkt in dem grünen Positionspapier sein.

Die Bezirke sollen – geht es nach der grünen Pflegevision – umfassend mit Planungsrechten ausgestattet werden, um die Bedarfe in den Kiezen erheben und bearbeiten zu können. In diesem Zusammenhang soll auch das Prinzip der Gemeindeschwester wiederbelebt werden.
Übergeordnet soll eine zentrale Koordinierungsstelle die Vermittlung von ambulanten Pflegediensten an Pflegebedürftige übernehmen. Bisher müssen sich von Pflege Betroffene selbst kümmern, sehr häufig übernehmen Angehörige diese schwierige Aufgabe. Ist die Rede vom »Pflege-Dschungel« geht es dabei vor allem um hochgradig komplizierte bürokratische Verfahren, was die Beantragung von Pflegegeld oder den häufig schriftlich ausgetragenen Kampf um die Pflegegrad-Einstufung angeht. Auch im Papier der Grünen heißt es: »Gerade am Anfang brauchen pflegende Angehörige niedrigschwellige, wohnortnahe, kultursensible und aufsuchende Beratungs- und Unterstützungsangebote.«

Dazu sehe man eine neue Generation alter Menschen, die ihr Leben in weiten Teilen selbstbestimmt führen konnten und klare Vorstellungen haben, wie sie sich ihr Leben im Alter, aber auch im Pflegebedarf vorstellen. Die gegenwärtigen Entwürfe von Pflegeheimen oder ambulanten Pflegediensten werden diesen Vorstellungen nicht mehr gerecht. Andere Wohnformen wie Wohn- und Hausgemeinschaften oder Genossenschaften würden verstärkt gebraucht.

Das Papier sattelt auf Bestehendem auf. So entsprechen die 45 Berliner Pflegestützpunkte, die unter Pflegesenatorin Dilek Kalayci (SPD) ausgebaut wurden, der Idee, die auch im Papier betont wird: Pflege an Bedarfen auszurichten und kieznah zu organisieren, damit die Menschen in ihrem vertrauten Umfeld bleiben können. Trotzdem ist die Kritik insgesamt recht stark: »Mit Blick auf die seit Jahrzehnten verschleppten Lösungen ist klar, dass wir neue Wege gehen müssen, da es keine schnellen Lösungen geben wird.«

Die ehemalige Sozialarbeiterin Topaç jedenfalls will den Mangel nicht länger nur bilanziert sehen. »Wenn es nach mir ginge, würden wir heute einführen, dass Beschäftigte in der Pflege mit 60 in Rente gehen können.« Um Fachkräfte zurückzugewinnen, würde das mehr helfen als das Starten von Aufrufen. Man müsse es nur wollen.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.