Städtepartnerschaft mit Berlin: Kiew auf die Füße stellen

Berlins Senat zieht Bilanz über seine Partnerschaft mit der ukrainischen Hauptstadt

Produkt der Freundschaft: »Life Bridge Ukraine« sorgt für den Aufbau einer kommunalen Prothesenwerkstatt in Kiew.
Produkt der Freundschaft: »Life Bridge Ukraine« sorgt für den Aufbau einer kommunalen Prothesenwerkstatt in Kiew.

Wenn Janine von Wolfersdorff von ihrer Arbeit zwischen Berlin und Kiew erzählt, dann erzählt sie auch von den Schrecken des Krieges. »Wir waren in sieben Krankenhäusern und haben dort die Hölle gesehen«, sagt die Gründerin von »Life Bridge Ukraine« am Mittwoch im Abgeordnetenhaus. Sie berichtet von ukrainischen Soldaten mit zerfetzten Körpern, von jungen Männern, die nach Amputationen in den Krankenbetten liegen – und das viel zu kurz. »Die Schwerverletzten können sich nicht einmal auskurieren, weil ständig neue Menschen nachkommen.«

Über 100 000 Amputationsverletzte hat die Ukraine zu beklagen. Einfach in ihr altes Leben zurückkehren, können diese Menschen nicht. Von Wolfersdorff will ihnen aber zumindest dabei helfen, in ihr neues Leben mit Prothesen zu finden. An ukrainischen Soldaten, erklärt die Projektleiterin, werde meist unter großem Stress amputiert. Das Ergebnis seien Amputationsstümpfe, die sich grundlegend von dem unterscheiden, was in deutschen Krankenhäusern unter idealen Bedingungen entsteht. Eine zusätzliche Herausforderung für die Arbeit an der richtigen Prothese.

»Wir haben in Deutschland einen hohen Stand der Prothesenanpassung«, sagt von Wolfersdorff. Dieses Know-how stellt »Life Bridge Ukraine« den Ukrainer*innen zur Verfügung und wird dafür im Rahmen der Städtepartnerschaft zwischen Berlin und Kiew durch den Senat finanziell unterstützt. Seit April 2024 werden sechs Auszubildende in Berliner Prothesenwerkstätten für das Prothesenzentrum Berlin-Kiew trainiert und in Prothetik zertifiziert. 40 Patienten wurden für das Projekt aus der Ukraine eingeflogen und behandelt. Denjenigen, die aufgrund ihrer Verletzungen nicht in ihren alten Job zurückkehren können, soll bei der Suche nach neuer Arbeit geholfen werden.

Neben der Unterstützung durch den Senat und der Orthopädiewerkstätten beteiligen sich das Bundeswehrkrankenhaus, das Unfallkrankenhaus Berlin, die Charité und zahlreiche Ehrenamtliche an »Life Bridge Ukraine«. Das Projekt ist eines der wichtigsten, das die Städtepartnerschaft zwischen Berlin und Kiew vorzuweisen hat, aber bei Weitem nicht das einzige. Staatssekretär Florian Hauer (CDU) spricht im Ausschuss für Bundes- und Europaangelegenheiten von Kooperationen mit den Berliner Wasserbetrieben, die sich mit dem schnellen Wiederaufbau von Wasser- und Elektrizitätswerken unter Kriegsbedingungen beschäftigen. Von der Berliner Stadtreinigung (BSR), die Müllfahrzeuge an Kiew übergeben habe. Oder von dem neuen Kiewer Büro der Tourismusagentur Visit Berlin in Kiew. Hinzu kommen Gespräche, den Sitz der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) mit Street-Art aus der Ukraine zu verzieren.

»Es geht nicht mehr um die große Masse, sondern um die Qualität von einzelnen Kooperationen.«

Eva Yakubovska Vitsche e.V.

Laut Senat steht die Berliner Stadtentwicklungsverwaltung im Austausch mit Kiew, um Strategien für den Wiederaufbau zu entwickeln. Die Wirtschaftsverwaltung habe mit dem »Kyiv Investment Forum« eine wichtige, ehemals in Kiew stattfindende Networking-Veranstaltung für dieses Jahr nach Berlin geholt. Der Ukrainischen Botschaft zufolge gibt es insgesamt elf regionale Partnerschaften zwischen Deutschland und der Ukraine. Wiederum 236 Kooperationen finden auf kommunaler Ebene statt, auch unter Beteiligung von Berliner Bezirken.

»Es geht nicht nur darum, ein Zeichen der Solidarität zu setzen. Es geht um konkrete Hilfe und Unterstützung«, sagt Hauer. Für Berlin sehe er vor allem nach Ende des Krieges »sehr große Potenziale«, die sich aus der Städtepartnerschaft ergäben, etwa in Sachen Digitalisierung. Beeindruckt zeigt sich der Staatssekretär von der Begegnung mit einem ukrainischen Kollegen, der per Handy auf das System der Kiewer Verwaltung zugreifen konnte. Als strategisches Ziel sei außerdem eine Vier-Städte-Kooperation zwischen Berlin, Kiew, Warschau und Paris denkbar.

Bei der Berliner Zivilgesellschaft bedankt sich hingegen Eva Yakubovska von der Nichtregierungsorganisation Vitsche, die alle möglichen Veranstaltungen mit dem Schwerpunkt Ukraine organisiert. »Es ist normal, dass Menschen vergessen und versuchen, sich auf etwas anderes zu konzentrieren«, sagt sie. Trotzdem zeigten Berliner*innen nach wie vor ihre Unterstützung für die Menschen aus der Ukraine. »Es geht nicht mehr um die große Masse, sondern um die Qualität von einzelnen Kooperationen.« Noch am Dienstag hätten Berliner*innen beim durch die Konrad-Adenauer-Stiftung organisierten Event »Café Kyiv« im ehemaligen Café Moskau an der Karl-Marx-Allee Schlange gestanden.

Die Auswirkungen des Krieges, führt Yakubovska aus, spüre Vitsche in der täglichen Arbeit deutlich. Der Teil des Teams, der sich in Kiew befinde, leide unter ständigem Schlafentzug. »Wir dürfen nicht vergessen, jede Nacht gibt es neue Angriffe«, sagt Yakubovska. Auch die vielen Beerdingungen, die tagtäglich in der ukrainischen Hauptstadt stattfinden, belasteten die Kolleg*innen. Umso größer sei die Freude über gelungene Projekte wie das Festival Ukrainian Sound Garden, bei dem sich vor allem Künstler*innen untereinander vernetzen. »Wir hoffen, dass es noch mehr Initiativen geben wird«, sagt Yakubovska.

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