Der Preis geht an: männlich, weiß und hetero

Die Schriftstellerin Sarah Berger über Körperlichkeit und das notwendige Ende männlicher Dominanz in der Literatur

  • Asal Dardan
  • Lesedauer: 7 Min.

Immer wieder liest und hört man, dass Ihre Literatur radikal sei. Warum glauben Sie, wird Ihnen das attestiert?

Das kann ein Kompliment sein und bedeuten, dass meine Literatur in Form und Inhalt in solch besonderem Maße von der Norm abweicht, dass sie etwas von Grund auf erschüttert. Wenn diese Erschütterung primär darin besteht, die cis-heteronormative Ordnung und den darin verankerten männlichen Blick auf die Welt ins Wanken zu bringen, kommt das nicht ohne sexistischen Beigeschmack aus. Ich seziere mit den Mitteln der Poesie sexuelle Situationen und Körperlichkeit. Wenn das als radikal bezeichnet wird, nur weil es ungewöhnlich ist, sich mit dem Innenleben von nicht cis-männlichen Figuren zu beschäftigen, ist Radikalität hier weniger eine Aussage über die Qualität meiner Arbeit, als über die Diversitäts- und Perspektivenarmut deutschsprachiger Literatur und Literaturkritik.

Sarah Berger
Die freie Autorin und Fotografin wurde 1985 in Timişoara (Rumänien) geboren und lebt in Berlin. 2020 erschienen von ihr »bitte öffnet den Vorhang« (Sukultur) mit Fragmenten, die zuvor auf Facebook, Twitter und Instagram veröffentlicht wurden, sowie der Kurzgeschichten-Band »Sex und Perspektive »(Herzstückverlag) und Social-Media-Collagen unter dem Titel »Lesen und Schreien« im Frohmann-Verlag.

Was verstehen Sie selbst unter literarischer Radikalität?

Für mich bedeutet literarische Radikalität, sich mittels poetischer Ästhetisierung so konsequent in einen Sachverhalt, ein Gefühl, eine Handlung etc. hineinzubohren, dass dem allgemeinen Verständnis dieses Sachverhalts, dieses Gefühls, dieser Handlung eine weitere Dimension hinzugefügt, die im Anschluss an die Lektüre nicht mehr wegzudenken ist. Diese Dimension kann natürlich auch eine politische sein oder politische Konsequenzen einfordern. Damit ein literarischer Text seine Leser*innen so sehr bewegt, dass sich in ihnen etwas ändert, muss er immersiv sein. Das schafft ein Text nicht nur, indem er beispielsweise gesellschaftliche Schieflagen erzählt, sondern das Erzählen selbst muss erschüttern. Die Fähigkeit, in diesem Sinne radikal zu schreiben, ist demnach keine, die durch das Geschlecht oder die gesellschaftlichen Umstände per se gegeben ist. Sie ist auch nicht erstaunlicher, wenn es sich bei dem Geschlecht um das weibliche handelt, sondern es geht um eine Technik, die sich Autor*innen unabhängig von ihrem Geschlecht aneignen.

In Ihren Texten entziehen Sie sich ohnehin diesen Zuschreibungen, oft bleibt das Geschlecht Ihrer Figuren unbekannt. Welche Herausforderungen und Möglichkeiten begegnen Ihnen, wenn Sie so ganz nah an Körpern erzählen und dennoch auf Eindeutigkeiten verzichten?

Die Konflikte, die aus dem binären Geschlechterverständnis abgeleitet werden, sind artifiziell und unpräzise. Reibung entsteht nicht, weil Menschen aufgrund ihrer Geschlechtsteile unterschiedlich sind, und schon gar nicht, weil geschlechtliche Zuschreibungen vermeintlich naturgegeben sind. Vielmehr befindet sich der Mensch in einem permanenten Spannungsfeld aus subjektiver Wahrnehmung und äußerem Erkanntwerden und auch Anerkanntwerden. Jedes soziale Miteinander, aber auch jeder Versuch, die eigene Identität unabhängig vom sozialen Rahmen zu bestimmen, vollzieht sich innerhalb dieser intersubjektiven Bewegtheit. Besonders deutlich erscheint sie mir, wenn ich mich der Körperlichkeit an sich zuwende. Der Körper ist sowohl Resonanzraum als auch physische Begrenzung des Ichs. Aber auch innere und äußere Projektionsfläche. Die Dualität aus Körper-Sein und Körper-Haben ist so fundamental - sie anhand der eigenen Körperlichkeit zu erfahren, kann sehr schmerzhaft sein. Hier sehe ich großes literarisches Potenzial, und zwar gerade durch den Verzicht auf Eindeutigkeiten, indem ich das komplexe Verhältnis aus Selbst- und Fremdzuschreibung offenlege.

Was sagen Sie zu dem Argument, dass gendersensible Sprache sich nicht mit ästhetischen und literarischen Ansprüchen vereinbaren ließe?

Dem muss ich widersprechen. Gerade im literarischen Schreiben werden ästhetische Ansprüche an Sprache immer wieder neu verhandelt und gängige Regeln gebeugt. So entstehen markante Stile, die dann beispielsweise in der Literaturwissenschaft diskutiert werden. Aus meiner Schreibpraxis gesprochen: Die Umstellung auf einen flüssigen Gebrauch genderneutraler Sprache war nicht leicht, aber machbar und ist letztlich eine Sache der Gewöhnung. In »bitte öffnet den Vorhang« habe ich bei jedem Text darüber nachgedacht, was ich eigentlich erzählen will und ob die konkrete Nennung von genderspezifischen Begrifflichkeiten überhaupt notwendig ist, und bin zu dem Schluss gekommen, dass sich die meisten Geschichten mit leichten grammatikalischen Anpassungen auch genderneutral erzählen lassen.

Es gibt allerdings Menschen, darunter die sehr prominente Schriftstellerin J. K. Rowling, die durch den Gebrauch genderneutraler Sprache die Belange von Frauen verdrängt sehen. Sie positionieren sich nicht konservativ, sondern als feministisch und wehren sich etwa gegen Formulierungen wie »Menschen mit Uterus« anstelle von Frau.

Für einige feministische Anliegen ist der Begriff Frau zu unpräzise: »Mensch mit Uterus« kann den Begriff Frau semantisch nicht ersetzen, aber es werden trans-, inter- und nichtbinäre Personen inkludiert, die das Thema je nach Anatomie gleichermaßen betreffen kann. Gendergerechte Sprache schafft durch Differenzierung mehr Sichtbarkeit, auch für Frauen und ihre Anliegen. So lassen sich Mechanismen der Marginalisierung viel präziser analysieren und in ihrem Ursprung bekämpfen.

In »bitte öffnet den Vorhang« spricht das Ich von sich selbst als Geschichtenerzähler*in, das nur lebt, wenn es sich erzählen kann. Die Textfragmente in dem Buch werden begleitet von Ihren Selbstporträts. In »Lesen und Schreien« nutzen Sie wiederum Bilder Ihrer eigenen Social-Media-Accounts. Da liegt es nahe, das Ich Ihrer Werke mit Ihnen als Autorin gleichzusetzen, oder?

Für mich ist alles Material. Alles, was ich erlebe; alles, was ich fühle; die Dinge, die ich lese, egal ob es theoretische Texte oder meine privaten Chat-Verläufe sind, und auch mein Körper. Die Frage ist doch nicht, ob ich dieses Ich bin oder ob irgendetwas davon real oder wahr ist, sondern was ich damit mache. Cindy Sherman fotografiert nur sich selbst, und doch zeigt keines ihrer Bilder die Person Cindy Sherman. Oder Sophie Calle oder Friederike Mayröcker - es gibt eine lange Tradition von Künstler*innen, die ganz nah an sich arbeiten und dabei eine Wirkung in die Welt entfalten. Dennoch werden Schriftstellerinnen häufig in die autobiografische Ecke gestellt, sobald sie Ich sagen oder ihren Körper zum Thema machen und sich klassischen Formen entziehen. In »bitte öffnet den Vorhang« habe ich nicht nur die Ich-Form gewählt, sondern thematisiere in einigen Abschnitten auch die Gewalt, die Schreibenden widerfährt, wenn ihre Arbeit in eine autobiografische Lesart gezwungen und ihnen dadurch Relevanz abgesprochen wird.

Die Autofiktion erlebt aber doch seit einigen Jahren einen regelrechten Boom, ebenso wie die digitale Literatur. Inwiefern nehmen Sie diese Abwertung wahr?

Ich sehe diesen Boom nur bei autofiktionalen Texten, die wiederum als Roman gelabelt sind und im deutschen Feuilleton dann auch als solche besprochen werden. Ad hoc fallen mir da nur Beispiele männlicher Autoren ein, die dann für ihre brillante Erzähltechnik oder ihre hohe literarische Kraft gelobt werden. Männlichen Autoren wird automatisch literarische Distanz und allgemeine Wirkmächtigkeit zugesprochen, egal wie nah sie an sich selbst arbeiten. An anderer Stelle wird das dann als Nabelschau abgetan. Wenn die Protagonist*innen solcher Romane dann auch noch regelmäßig ihre Smartphones in der Hand halten und Chatverläufe dokumentiert werden, gelten diese Texte plötzlich als moderne Internetprosa. Dass seit dem Aufkommen des Internets, und noch mal anders seit Social Media, ganz neue Formen des Erzählens entstanden sind und immer weiter entstehen, wird von den großen Verlagen weitestgehend ignoriert. Wenn ich mir so anschaue, was verlegt wird, was im Feuilleton besprochen wird, was Preise gewinnt, sind das nicht nur immer noch viel zu viele Texte weißer cis-Männer, es sind vor allem auch klassische Erzählformen.

Welchen Wunsch an deutsche Verlage und an die Literaturkritik leiten Sie daraus ab?

Es gibt nicht besonders viel Raum für Veröffentlichungen in Verlagen und Besprechungen in Zeitungen. Damit weibliches, aber auch queeres, migrantisches, auch das Schreiben von BPoC (Black and People of Color - Red.) gleichwertig stattfinden kann, müssen weiße Cis-Hetero-Männer das Feld räumen. Ein legitimes Anliegen - schließlich wurde ihren Perspektiven in den letzten Jahrhunderten übermäßig viel Platz eingeräumt. Es müssten daher auch Schreibtraditionen aufgearbeitet werden, damit deutschsprachige Literaturgeschichte nicht mehr nur die Geschichte schreibender Männer ist. Im Zuge dieser Aufarbeitung würden dann auch literarische Formen fernab des Romans oder Formen, die gegenwärtige digitale Produktionsrealitäten widerspiegeln, mehr Aufmerksamkeit bekommen. Die Longlist des Deutschen Buchpreises 2020 war eine erfrischende Abwechslung hinsichtlich Diversität, sowohl was erzählerische Perspektiven betrifft als auch die Autor*innen selbst. Darüber habe ich mich sehr gefreut. Vielleicht gelingt es in Zukunft auch, nicht nur Romane zu beachten. Es passiert etwas, aber es gibt noch einiges zu tun.

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