Werbung

Die Erfindertürken

Andreas Koristka freut sich über die Medienbegeisterung über die Retter in der Corona-Not

Es ist nichts Besonderes, wenn ein Deutscher eine bahnbrechende Erfindung macht. Johannes Gutenberg erfand den Buchdruck, Otto Lilienthal das Gleitflugzeug und Gerhard Schröder den Hagebuttenstrauch als Dekorationsobjekt. Die Erfindung des Corona-Impfstoffes wäre zwischen diesen vielen großartigen Dingen nicht sonderlich aufgefallen, wenn es nicht ganz besondere Deutsche gewesen wären, die ihn entwickelten - nämlich keine richtigen.

Die Medien überschlugen sich deshalb geradezu vor Freude über den Erfolg der beiden »Gastarbeiterkinder« Özlem Türeci und Uğur Şahin, die bewiesen haben, dass man es in Deutschland als Türke zu etwas bringen kann, ohne sich einem kriminellen Clan anzuschließen oder Ethno-Comedy zu machen. Aufgewachsen in einem Fladenbrot zwischen Zwiebeln, viel Fleisch und scharfer Sauce in Köln und Cloppenburg, haben sie sich mit Erfolg aufgemacht, diese Welt ein bisschen besser zu machen.

Und ihr Erfolg ist auch unser Erfolg! Wir haben den Türkenkindern erlaubt, in unserer Mitte zu leben. Jetzt können wir uns alle auf die Schulter klopfen und daran erfreuen, was für ein weltoffenes und freundliches Land wir mittlerweile sind. Deutschland - das ist eben nicht nur NSU und AfD. Deutschland ist auch das Land, in dem du es zu etwas bringen kannst, wenn du immer schön in der Schule aufpasst, egal wie sehr es aus deiner Brotdose nach Sucuk riecht.

Klar, wir Deutschen haben auch Fehler gemacht. Deutschland hätte wahrscheinlich von Beginn an etwas strenger sein müssen mit seinen neuen Gästen. Aber das wollten wir nicht, um zu beweisen, wie nachhaltig wir aus unserer schwierigen Geschichte gelernt haben. Egal, nun endlich hat die deutsche Wissenschaft ihre beiden Mesut Özils. Und sie haben nicht mal einen Erdogan-Fimmel!

Um im Türkenwunder ganz sicher zu gehen, muss es jetzt die vornehmste Aufgabe der Medien sein, investigativ zu prüfen, wie fest das Ehepaar auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht. Gut ist schon mal, dass Frau Türeci kein Kopftuch trägt. Das lässt auf eine gewisse weltliche Zugewandtheit schließen. Sympathiebekundungen für die aserbaidschanische Armee, den Islamischen Staat oder für den Verschwörungstürken Attila Hildmann hat man auch nicht auf ihren Facebook-Profilen lesen können. Man könnte also meinen, dass uns nach all den Enttäuschungen ein waschechtes deutsch-türkisches Vorzeigepärchen geschenkt wurde. Es ist ein richtiges Zweite-Welle-Märchen!

Damit das so bleibt, kann man den beiden Wüssenschaftlern (haha!) nur empfehlen, den günstigen Moment zu nutzen, um sich von jedweder Homophobie, von Gewalt gegen LGBTQIA*, Gewichtsdiskriminierung, Lookism, antisemitischen Verschwörungserzählungen und Mario Barth in einer Rede an die Nation zu distanzieren. Diese Rede könnte dann Migrantenkindern im Fach Politische Bildung vorgespielt werden. Anschließend gibt es Verständnisfragen: »Warum finden Türeci und Şahin das Grundgesetz gut, andere Türken aber nicht?«, »Warum passt du nicht besser in Bio auf?« Usw, usf. ...

Es wäre ein schönes Signal an unsere Gesellschaft, das unseren Zusammenhalt stärken würde. Die Türken jedenfalls gehören schon jetzt irgendwie zu uns. Und wir zu ihnen. Es ist die neue Realität in Deutschland, dass jeder einen Gemüseladen kennt oder einen netten Dönermann, bei dem er sicher gehen kann, dass hygienische Mindeststandards eingehalten werden. Wir Deutschen haben uns mit unseren neuen Gästen arrangiert.

Jetzt wäre es für den gesellschaftlichen Frieden schön, wenn auch ein Ossi irgendwas Nützliches erfinden würde. Aber das werden wir wohl nicht mehr erleben.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -