- Kultur
- Chinas Verhältnis zur Welt
Chinas totale Kontrolle
Eine Augenzeugin berichtet aus dem chinesischen Überwachungsstaat und Lagersystem in Xinjiang
»Du darfst deinen Schmerz nicht zeigen«, dröhnt es in Sayragul Sauytbays Kopf, während ihr zwei Männer immer wieder Stromschläge durch den Körper jagen. Dabei sind die Schmerzen kaum auszuhalten, immer wieder wird sie bewusstlos. Drei Stunden dauert ihre Tortur, danach ist sie wieder in ihrer Zelle. Am nächsten Morgen steht sie - wie immer - zum Dienst bereit.
Sayragul Sauytbay ist die »Die Kronzeugin«, so heißt das Buch, das sie zusammen mit der Journalistin Alexandra Cavelius verfasst hat. Es ist ein eindrucksvolles Protokoll des Schreckens darüber, was im Nordwesten Chinas vor sich geht. Experten nennen es gar einen »kulturellen Genozid« an der muslimischen Bevölkerung Xinjiangs. Sauytbays Biografie, an der sich das Buch entlanghangelt, steht dabei stellvertretend für das Leid von Millionen Uiguren, Kasachen und Kirgisen in einem immer repressiver werdenden Staat. Das Buch ist schwer auszuhalten, auch wegen der Vergewaltigungs- und Folterszenen. Sauytbay musste als Ausbilderin in einem Internierungslager arbeiten. Nach ihrer Entlassung flüchtet sie nach Kasachstan. Später gewährt Schweden ihr Asyl. Dort hat sie Cavelius interviewt. Aus den Gesprächen enstand »Die Kronzeugin«.
Sayragul Sauytbay wird 1976 als Tochter von kasachischen Nomaden geboren. Es ist das Jahr, in dem Mao Zedong stirbt. Unter seiner Führung wurde Ostturkestan - wie Sauytbay ihre Heimat nennt - zu einem Teil Chinas gemacht. Ihre Kindheit verbringt Sauytbay in einem Dorf voller Kasachen, die ihre Muttersprache sprechen, ihre eigenen Traditionen und einen moderaten Islam ausüben. Es ist eine freie Zeit. Sauytbays Leben scheint ruhig zu verlaufen. Sie studiert Medizin, wird später Lehrerin. Obwohl die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) schon in den neunziger Jahren beginnt, die kulturellen und religiösen Freiheiten von Muslimen in Xinjiang einzuschränken, macht Sauytbay Karriere. Zuletzt leitet sie als Direktorin fünf Kindergärten.
Dabei werden immer mehr Chinesen gezielt in Xinjiang angesiedelt und die Sinisierung wird von der Kommunistischen Partei immer brutaler vorangetrieben. Es werden Moscheen geschlossen, Bärte und Kopftücher verboten ebenso wie muslimisch klingende Namen, zum Beispiel Hussein oder Mohammed. Als Sauytbay und ihr Mann erfahren, dass ihrem dreijährigen Sohn der Mund mit Klebeband zugeklebt wurde, weil er im Kindergarten Kasachisch gesprochen hat, denken sie darüber nach, auszuwandern. Doch sie schieben die Entscheidung immer wieder auf, bis Sauytbays Pass eingezogen wird. Im Juli 2016 bringt ihr Mann die beiden Kinder nach Kasachstan, um in Sicherheit zu sein. Sauytbay bleibt allein zurück. In dieser Zeit entsteht in Xinjiang der größte Überwachungsstaat der Welt: Kontrollposten werden errichtet, an jeder Ecke Kameras installiert. 24 Stunden lang patrouillieren Polizeieinheiten auf den Straßen. Apps verfolgen jeden Schritt, lesen jede Nachricht auf dem Smartphone mit. Die ersten »Berufsbildungszentren«, wie die Regierung die Internierungslager offiziell nennt, entstehen. Immer mehr Menschen verschwinden.
Polizisten holen Sauytbay mehrfach nachts ab und verhören sie. Die Beamten fordern, dass sie entweder ihre Familie zurückholt oder sich scheiden lässt. Im November 2017 wird sie schließlich in eines der Lager geholt. Weil sie Chinesisch und Kasachisch spricht, soll sie dort Gefangene unterrichten. Detailliert beschreibt »die Kronzeugin« den durchgetakteten Tagesablauf, von sechs Uhr morgens bis ein Uhr nachts. Die Internierten, die nur noch Nummern sind, werden indoktriniert und müssen Parolen schreien wie: »Ich bin stolz, Chinese zu sein«, »Ich liebe Xi Jinping« oder »Mein Leben und alles verdanke ich der Partei!« Hinzu kommen erzwungene Schuldeingeständnisse und Besserungsbekundungen.
Im Lager ist jeder Winkel kameraüberwacht. Nie geht das Licht aus, in der Luft hängt der Geruch von Schweiß und Exkrementen und immer wieder sind Schreie von Folteropfern zu hören. Als eines Tages eine alte Kasachin Sauytbay umarmt, steht diese plötzlich unter Verschwörungsverdacht. Sie kommt in einen schwarz gestrichenen Raum mit einem langen Tisch in der Mitte, auf dem Elektroschocker und Schlagstöcke liegen. An den Wänden hängen Speere und Skalpelle. In einer Ecke steht ein Hocker mit Eisennägeln als Sitzfläche. Es ist die Folterkammer des Lagers. Sauytbay kommt auf den elektrischen Stuhl. Diese Nacht habe sie »als Bündel voller Angst zurückgelassen«, sagt sie im Buch.
Im März 2018 wird Sauytbay aus dem Dienst entlassen. Für einige Tage kehrt sie als Leiterin in den Kindergarten zurück, bis ihr gekündigt wird. Sie ahnt, dass ihr nun selbst die Internierung droht und flüchtet nach Kasachstan, wo sie sich zunächst in Sicherheit wähnt. Doch schon nach wenigen Tagen nehmen sie zwei Männer des kasachischen Geheimdienstes mit. Allein die internationale Aufmerksamkeit, die ihr Fall auf sich zieht, rettet sie wohl vor der Abschiebung nach China. Doch Kasachstan will sie nicht haben. Sauytbays Asylgesuch wird mehrfach abgelehnt. Ihre Enttäuschung darüber, wie das »Land ihrer Muttersprache« sie behandelt, ist riesig. Am Ende willigt Schweden ein, sie aufzunehmen.
Alexandra Cavelius legt mit »Die Kronzeugin« ein Buch vor, das anklagt: den chinesischen Staat und die restliche Welt, die jahrelang ignoriert hat, was in Xinjiang vor sich geht. Cavelius hat schon öfter Opfern von Gewaltregimen eine Stimme gegeben. Bereits 2005 sprach die Autorin für »Die Himmelsstürmerin« mit einer Dissidentin, die infolge ihres Engagements für Uiguren fünf Jahre in einem chinesischen Gefängnis saß.
Ihr neues Werk schildert nicht nur das unmenschliche Lagersystem in Xinjiang, sondern zeigt auch, wie lang der Arm Chinas ist. Peking nutzt dabei die wirtschaftliche Abhängigkeit Kasachstans, ein Schlüsselland der »Neuen Seidenstraße«, aus. Die Regierung in Nur-Sultan achtet genau darauf, den großen Nachbarn im Osten nicht zu verärgern und geht dabei sogar gegen China-Kritiker im eigenen Land vor. Der prominenteste Fall ist Serikschan Bilasch. Seine in Almaty ansässige NGO »Atajurt« hatte sich für Kasachen aus Xinjiang eingesetzt, auch für Sauytbay. 2019 wurde Bilasch verhaftet und nur deshalb wieder freigelassen, weil er zusagte, sich sieben Jahre lang nicht mehr zu den Menschenrechtsverstößen in China zu äußern.
Sauytbay will die Welt vor China warnen, sagt sie. Im Lager habe sie einen Drei-Stufen-Plan gesehen, dessen Ziel die Besetzung Europas sei, berichtet sie. Ist das »Chinas Griff nach der Weltherrschaft«, wie der etwas reißerisch geratene Untertitel von »Die Kronzeugin« verkündet? Vorangig geht es um ökonomische Macht. Folgt man Sauytbay, dann will China bis 2025 die Bewohner Xinjiangs assimiliert und bis 2035 die Nachbarländer unter Kontrolle gebracht haben. Angestrebt sei die wirtschaftliche Abhängigkeit der Länder Zentralasiens durch das Seidenstraßen-Projekt. Dann sollen sich dort immer mehr Chinesen ansiedeln, Fabriken aufbauen und Medien unter ihre Kontrolle bringen, umso der chinesischen Politik den Weg zu ebnen. Im letzten Schritt solle auf ähnliche Weise bis 2055 Europa erobert werden. Die zentralasiatischen Staaten sind tatsächlich schon heute bei China hoch verschuldet. Wie sie ihre Kredite jemals zurückzahlen wollen, ist unklar, und Peking lockt auch europäische Staaten mit Geld und Investitionen. Deutsche Firmen wie Lufthansa oder Daimler kooperieren mit der KPC, um ihre Geschäfte im Reich der Mitte zu sichern.
Sauytbay fühlt sich in Schweden sicher, obwohl sie noch immer Drohanrufe aus Peking erhält. Sie mahnt: »Freiheit ist keine Selbstverständlichkeit. Wer sie nicht rechtzeitig schützt, hat schon verloren, denn in den letzten Zügen schwindet sie schneller, als wir Menschen mitdenken können.« Xinjiang und Hongkong sind traurige Beispiele dafür.
Sayragul Sauytbay mit Alexandra Cavelius: Die Kronzeugin: Eine Staatsbeamtin über ihre Flucht aus der Hölle der Lager und Chinas Griff nach der Weltherrschaft. Europa Verlag 252 S., geb., 22 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.