Nicht über Trumps Stöckchen springen

In den USA wird es Zeit für eine versöhnliche Polarisierung. Und dann kommen die sozialen Themen!

  • Tom Wohlfarth
  • Lesedauer: 6 Min.

Derzeit ist in den USA wieder sehr viel von Polarisierung die Rede, von der Spaltung der Gesellschaft, weil die Wähler*innen einmal mehr das getan haben, was sie seit mindestens 20 Jahren tun: mit verhältnismäßig knapper Mehrheit einen von zwei Präsidentschaftskandidaten zu wählen. Anstatt also das Allgemeine allzu leichtfertig zum Besonderen zu stilisieren, könnte man diese vermeintliche Spaltung auch einmal bis ins Auge des Betrachters hinein verfolgen. Denn da zeigt sich sehr schnell eine gewisse Schizophrenie.

Etwa darin, dass die große Mehrheit auch der professionellen Trump-Beobachter*innen seit seinem Erscheinen auf der politischen Bühne beständig zwischen Unter- und Überschätzung seiner Person hin- und hergerissen ist. Einerseits nehmen sie ihn zu ernst und gleichzeitig zu wenig ernst. Obwohl seit dem 8. November 2016, jenem Tag, als er gegen Hillary Clinton gewann, Unmengen von Texten geschrieben wurden, die davon handelten, wie sehr man diesen Clown doch unterschätzt habe und inwiefern diese geistige Fehlleistung der Beobachtungsprofis eine historische Zäsur markiere, ist auch nach dem 3. November 2020 wieder nicht viel anderes passiert. Trump habe in Staaten wie Florida oder Georgia «überraschend gut» oder gar «viel zu gut» abgeschnitten, war etwa nach den ersten Hochrechnungen in der Wahlnacht zu hören. Und auch wenn er am Ende dann doch deutlich verloren hat, konnte er sein Wahlsiegergebnis von 2016 in absoluten Zahlen noch verbessern. Dass es tatsächlich Gründe für Trumps anhaltenden Erfolg gibt, schien nach vier Jahren seiner Präsidentschaft immer noch schwer vorstellbar.

Doch dieser fortgesetzten Unterschätzung Trumps auf der nicht ganz irrelevanten Ebene des Wahlerfolgs steht seine gleichbleibend hysterische Überschätzung gegenüber: auf dem Gebiet der heißen Luft und «alternativen Fakten», die er verbreitet. Nachdem Medien wie die «Washington Post» in den letzten vier Jahren jede einzelne der inzwischen wohl an die 25 000 Lügen des Präsidenten akribisch dokumentierten, versetzte seine 25 001. und im Übrigen seit Monaten angekündigte Lüge - dass diese Wahl nicht «legal» ablaufe bzw. dann auch nicht «legal» abgelaufen sei und man diesen «Betrug» vor den Supreme Court bringen werde - erst einmal wieder (fast) alle in Panik. Ganz so, als könne es gar nicht anders sein, als dass die amerikanischen Gerichte sich selbstverständlich genauso verhalten müssten wie sämtliche westlichen Medien: nämlich reflexhaft über jedes noch so erfundene Stöckchen zu springen, das Trump ihnen hinhält.

Es scheint also auch nach all den medientheoretischen Exerzitien der letzten Jahre immer noch zu sehr an dem Bewusstsein zu mangeln, dass genau diese schizophrene Sensationslust entscheidend mit dafür verantwortlich ist, dass das «Phänomen Trump» überhaupt erst zu einem solchen werden konnte. Insofern konnte es geradezu wie eine neue historische Zäsur erscheinen, dass nach den ersten Schockwellen der Hochrechnungen und von Trumps Gepolter zahlreiche US-TV-Sender kurzerhand dem Noch-Präsidenten bei der Übertragung seiner ersten Rede nach der Wahl den Saft abdrehten, um seinen irrwitzigen Falschbehauptungen vom Wahlbetrug die Fakten entgegenzustellen.

So etwa CNBC, wo Moderator Shepard Smith die Zuschauer wissen ließ: «We’re interrupting this, because what the President of the United States is saying, in large part, is absolutely untrue» («Wir unterbrechen, weil das, was der Präsident sagt, in weiten Teilen keiensfalls der Wahrheit entspricht»). Stattdessen begann Smith Trumps Statements ausführlich zu korrigieren, während der Präsident im Bild neben ihm weiter tonlos nun buchstäblich nur noch Luft produzierte. Als die Regie kurzzeitig Trumps Ton im Hintergrund wieder etwas hochdrehte, um wenigstens einen kleinen Live-Effekt zu erzeugen, reagierte Smith nur genervt: « »You can take him out of my ear, please!« (etwa: »Bitte stellt ihn leiser«) - woraufhin Trump endgültig im Abgrund der Geschichte versank.

Ähnliches passierte auf vielen US-Sendern, wie die Publizistin Samira El Ouassil im Deutschlandfunk berichtete - allerdings nur um festzustellen: »Good news, bad timing.« Der journalistische Gratismut, einem aller Wahrscheinlichkeit nach schon Gefallenen noch hinterherzutreten, komme reichlich spät, denn für diese Gesten hatten die Medien vier Jahre Zeit. Vor der Wahl hätte so ein Verhalten wie das von Moderator Shepard Smith tatsächlich als demokratische Selbstermächtigung durchgehen können. Vielleicht sei es sogar gerade jetzt eher kontraproduktiv, sich angesichts von Trumps Staatsstreichinszenierung die Ohren zuzuhalten.

Ein weiteres Indiz dafür, dass sich die gewaltige Irritation, in die Trump das gesamte westliche Establishment gestürzt hat, noch nicht ganz wieder aufgelöst hat, ist das ekstatische Aufatmen, mit dem Bidens Sieg zum Teil als geradezu heilsbringende Erlösung gefeiert wurde. Als sei es nicht genau dieselbe Spielart von sich progressiv gebendem Kapitalismus gewesen, für die Biden steht, die Hillary Clinton vor vier Jahren aus gutem Grund hat verlieren lassen und die in unkorrigierter Form die tieferen Ursachen für Trumps Erfolg weiter aufrechterhalten dürfte. Und als sei nicht auch der letzte Versuch, ein schon damals sich zunehmend polarisierendes Land zu »versöhnen« und zu »vereinen«, nämlich der von Barack Obama nach seinem Sieg 2008, an der mangelnden Kompromissbereitschaft der Republikaner krachend gescheitert.

Momentan spricht einiges dagegen, dass Biden so sehr auf die Parteilinke zugehen wird, wie diese es erwartet, weil sie seinen Wahlerfolg auch als den ihren feiert. Noch vor einer erhofften Versöhnung mit den Republikanern könnte also die Demokratische Partei selbst schon wieder in sich gespalten sein.

Vielleicht sollte es am Ende aber auch gar nicht darum gehen, sich im Politikdiskurs zwischen Versöhnung und Spaltung entscheiden zu müssen - würde das doch die nicht nur für die US-amerikanische Gesellschaft gefährliche binäre Logik nur perpetuieren. Um damit konstruktiv umzugehen, müsste man Versöhnung und Polarisierung erst einmal ins richtige Verhältnis zueinander setzten. Das könnte etwa bedeuten, anzuerkennen, dass Republikaner und Demokraten durchaus konträre politische Inhalte vertreten können, sich deswegen aber nicht bis aufs Blut hassen müssen.

Ein Weg zu einer solchen etwas versöhnlicheren Polarisierung könnte darin liegen, in identitätspolitischen (und damit immer auch emotional-explosiveren) Fragen kompromissbereiter zu sein als etwa in ökonomischen oder sozialen. Denn wenn »eine Gesellschaft lange genug vorrangig über Identitätspolitik diskutiert, entwickelt sich eine Art gewaltloser Bürgerkrieg«, schreibt der Politologe Timo Lochocki in seinem Buch »Die Vertrauensformel« und fordert stattdessen einen »bürgerlichen Kompromiss«. Für Joe Biden könnte ein solcher Spagat darin bestehen, seine Zugeständnisse an die republikanische Stammwählerschaft auf Identitätsfragen zu beschränken und gleichzeitig mit mutigen wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen das Vertrauen einiger durch Jahrzehnte des progressiven Neoliberalismus unter Clinton und Obama tief enttäuschter Trump-Protestwähler zurückzugewinnen. Und dafür sollte er vielleicht doch auch ein wenig auf die klassenpolitischen Ansätze seiner Parteilinken hören.

Aber auch die Medienmacher*innen und -konsument*innen müssten die Lust am Grusel ihrer alten personalisierende(n) Polarisierungsschizophrenie überwinden, um dem Trumpismus etwas entgegensetzen zu können, der den scheidenden Präsidenten wohl leider überleben und weiterhin alles Sachliche aufs Nebensächliche, das Anständige auf das Unanständige und Inakzeptable herunterbrüllen wird. Sie müssten sich dringend überlegen, wie sie zugleich sachlicher, differenzierter und dabei trotzdem interessanter und interessierter sein können.

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