Bewegung in feudalen Strukturen

In der deutschen Theaterlandschaft herrschen vordemokratische und prekäre Strukturen, findet Schauspieler Michel Brandt, der für die Linke im Bundestag sitzt. Aber es tut sich was

Als in den frühen Morgenstunden des 4. November die ersten Wahlergebnisse aus den US-Staaten eintrafen, saß Michel Brandt mit aufgeklapptem Laptop an einem Lagerfeuer in Südhessen. Zusammen mit Gleichgesinnten hatte sich der 30-Jährige bei fünf Grad Celsius die Nacht um die Ohren geschlagen, um einen Castor-Transport zu verzögern. »Einfach erst mal gut«, findet er es, dass Trump nun weg ist. Und klingt dabei, als müsse er sich für diese Feststellung entschuldigen. Biden? Nun ja. »Unter Sanders hätte es mehr Raum für Dynamik von unten gegeben.«

Dynamik von unten - damit hätte man eigentlich schon das Politikverständnis eines Mannes beschrieben, der als einer der jüngsten Abgeordneten für Die Linke im Bundestag sitzt und sich dort spürbar gut eingelebt hat. Und der dennoch davon überzeugt ist, dass gesellschaftlicher Fortschritt nicht aus den Papierbergen kommt, die auch seine Fraktion produziert. Wenn Gremien, die fast nur aus über 60-jährigen Männern bestehen, über die Forderungen von »Fridays for future« (FFF) debattieren, zeigt ihm das zweierlei: Dass die Hartnäckigkeit von FFF sich gelohnt hat. »Und dass der Bundestag die Gesellschaft nicht gut repräsentiert. Es fehlen Arbeiter, Sozialberufe, Nicht-Akademiker. Vor allem fehlen die Frauen.«

Was hingegen nicht mehr fehlt, sind Schauspieler: Brandt wurde 2017 als einziger Vertreter seines Berufsstandes für den Wahlkreis Karlsruhe nach Berlin gewählt. Wie exotisch das in der von Jurist*innen und Beamt*innen geprägten Parlamentslandschaft ist, wurde Brandt, der am Badischen Staatstheater Karlsruhe in »Dantons Tod« und »Angriff auf die Freiheit« (nach Juli Zeh und Ilija Trojanow) auftrat, schnell klar: »Ich muss im Parlament oft den Blick auf eine Branche öffnen, in der unheimlich viele Menschen arbeiten, die aber in der öffentlichen Wahrnehmung völlig unterrepräsentiert ist.« Feudale Strukturen und prekäre Beschäftigungsverhältnisse seien eher die Regel als die Ausnahme. »Mein Einstiegsgehalt lag unter dem Mindestlohn. Und das nach vier Jahren Studium.«

Im vergangenen Winter eskalierte am Staatstheater ein Konflikt, der zuvor jahrelang geschwelt hatte. Auf der einen Seite stand Generalintendant Peter Spuhler, auf der anderen Seite die übergroße Mehrheit der 700 Beschäftigten. Was Schauspieler*innen und Techniker*innen gegenüber den »Badischen Neuesten Nachrichten« (BNN) zu Protokoll gaben, klang unglaublich. Weil 16-Stunden-Schichten vom Gesetzgeber nicht vorgesehen sind, seien Stundenzettel auf Anordnung von Spuhler systematisch gefälscht worden. Und während sich der Intendant in der dichten Folge immer neuer Premieren und Gastauftritte sonnte, kapitulierten immer mehr von denen, die es nicht mehr aushielten, zu immer noch längeren Proben und immer noch mehr Inszenierungen angehalten zu werden.

Spuhlers Ehrgeiz, findet Brandt, habe dem Theater durchaus genutzt - nur eben auf Kosten der Mitarbeiter*innen: »Es gab mutige Inszenierungen und die Gründung des Jungen Staatstheaters, das ein jüngeres Publikum anspricht. Das ist wichtig, wenn wir wollen, dass diese Art von Kultur uns erhalten bleibt. Wenn man aber gleichzeitig das Ensemble verkleinert, sind diese irren Vorstellungszahlen ruinös.« Als publik wurde, dass die Verträge von schwangeren Balletttänzerinnen nicht verlängert wurden, wagte der Personalrat den Schritt an die Öffentlichkeit. »Spuhler soll durch Kontrollzwang, cholerisches Verhalten und das Einfordern permanenter Verfügbarkeit die Gesundheit der Mitarbeiter bis hin zu mehreren Burn-Out-Fällen gefährdet haben«, schrieben die BNN.

Traditionen wie im Kaiserreich

Brandt, der zu seiner Zeit als Schauspieler auch im Personalrat war, muss nun erst mal die Struktur eines Staatstheaters erklären. Denn über dem Intendanten mag es zwar in der Eigenwahrnehmung nur noch Gott geben, de facto leitet aber ein Verwaltungsrat die Geschicke. In Karlsruhe wird der von der Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) geleitet, Stellvertreter ist Oberbürgermeister Frank Mentrup (SPD), dazu kommen je fünf Gemeinderätinnen und Landtagsabgeordnete - ein politisches Gremium also, das »immer alles abgenickt hat. Die Beschäftigten haben nie eine Rolle gespielt«, bilanziert Brandt. Am vergangenen Mittwoch dann die Kehrtwende. Bauer, die mit Spuhler privat befreundet ist, und Mentrup erklärten per Pressemitteilung, dass sie dem Verwaltungsrat die Auflösung der erst im Mai 2019 vereinbarten Vertragsverlängerung bis 2026 vorschlagen.

»Es lag alles auf dem Tisch, das hätte viel früher passieren können«, sagt Brandt, der sich mit Grausen an eine Betriebsversammlung erinnert, bei der sich Mentrup und Ministerin Bauer auf Seiten des Intendanten positioniert hätten, der kurz zuvor von 300 Angestellten massiv angegriffen worden war: »Da trauen sich Menschen, die Angst um ihren Job haben, mit zitternder Stimme zu sagen, was hier passiert. Und Mentrup lässt sie auflaufen.« Irgendwann sei ein Teilnehmer aufgestanden: »Ich dachte, Sie sind Sozialdemokrat. Warum stehen Sie nicht auf der Seite der Beschäftigten?« Auch im gegenwärtigen Oberbürgermeister-Wahlkampf - am 6. Dezember wird gewählt - spielte der Streit ums Staatstheater bis Mitte der Woche eine große Rolle. Doch der Rechnung von CDU-Mann Sven Weigt »700 Mitarbeiter, ein Intendant, da ist die Entscheidung klar«, wollte sich Mentrup, der von SPD und Grünen unterstützt wird, zunächst nicht anschließen. Zumal es lange dauere, bis eine Intendanz neu besetzt sei, so Mentrup. Nun also der Befreiungsschlag, der Mentrup auch den Wahlkampf erleichtern dürfte. Mit seiner Positionierung im Intendanten-Streit hatte er auch das eigene Lager irritiert.

Brandt erfuhr von der spektakulären Kehrtwende am anderen Ende der Republik während der Bundestagsdebatte zum Infektionsschutzgesetz. Dass es »in der deutschen Theaterlandschaft letztlich nicht um einzelne Personen, sondern um die Strukturen« gehe, hatte er ein paar Tage zuvor schon betont. Er wiederholt es auch heute. »Im deutschen Staatstheater leben Kaiserreichtraditionen fort. Der Kunst- und Theaterbetrieb muss demokratisiert werden.« Immerhin: 2015 habe sich ein Ensemble-Netzwerk gegründet, das bundesweit schon gut vernetzt sei. Ohne Dynamik von unten geht eben auch am Theater nichts voran.

Dynamik von unten

Eine Erkenntnis, die im Übrigen auch für den Landesverband seiner Partei gilt. 2,9 Prozent holte Die Linke bei den letzten Landtagswahlen in Baden-Württemberg - weniger als in Bayern. Im Südwesten ist die Linkspartei allenfalls in den größeren Städten verwurzelt, abseits der Zentren fehlen Strukturen, mancherorts prägen skurrile Gestalten das Erscheinungsbild. In Karlsruhe, der drittgrößten Stadt im Ländle, tut sich hingegen etwas. »Mit 9,6 Prozent bei den Bundestagswahlen und 7,5 bei den Kommunalwahlen bin ich total zufrieden«, sagt Brandt, der in Oldenburg und Bremen aufwuchs und immer noch Inhaber einer Dauerkarte vom SV Werder Bremen ist. »Als ich 2012 hierher gezogen bin, hatten wir 120 Mitglieder, jetzt sind es 365. Und ich zähle schon zum alten Eisen.« Sei es die Seebrücke, seien es Aktionen gegen die Zwangsräumung säumiger Mieter*innen, oder die Streikinitiativen in den Kliniken und im Nahverkehr. Überall habe Die Linke in ein Vakuum stoßen können, das die Grünen hinterlassen hätten. »Ich nehme sie nicht mehr wahr, die sind in keinem Bündnis mehr ein aktiver Teil.«

Warum sie dann laut Umfragen auf erneut 34 Prozent hoffen können? Brandt, der als diskussions- und konfliktfreudiger Mensch eine Weile brauchte, bis er sich an die eher harmoniebedürftige Grundstimmung im Badischen (»immer diese Ruhe«) gewöhnt hatte, hätte da eine Erklärung: »Ich glaube, es fühlt sich einfach besser an, Grüne zu wählen als CDU. Zumal wenn es keinerlei Folgen hat und man keine Abstriche zu befürchten hat. Die Grünen besetzen ja auch das Thema Ökologie nur noch alibimäßig. Diese Unverbindlichkeit scheint ein Erfolgsrezept zu sein.« Brandt setzt sein eigenes Erfolgsrezept dagegen, eine konsequente Bündnispolitik. Beim nächsten Castor-Transport wird er wieder nach Biblis fahren. »Das würde ich aber auch tun, wenn ich nicht in eine Partei eingetreten wäre.«

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