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Kein Schlussstrich
NSU-Watch hat eine Analyse zum Gerichtsprozess gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte vorgelegt
Fünf Angeklagte, 74 Anwälte, 95 Nebenkläger und 541 Zeugen. 65 Millionen Euro hat der fünf Jahre währende Gerichtsprozess gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte gekostet. Zschäpe wurde am 11. Juli 2018 wegen Mittäterschaft am Mord von zehn Menschen und an 43 Mordversuchen, außerdem wegen Sprengstoffanschlägen, Raubüberfällen und der Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung NSU zu lebenslanger Haft verurteilt. Die vier Mitangeklagten wurden zu Freiheitsstrafen zwischen zweieinhalb und zehn Jahren verurteilt. Im Frühjahr dieses Jahres lag das schriftliche Urteil vor. Es ist noch nicht rechtskräftig.
Das Urteil erlebten viele Nebenkläger als eine »schallende Ohrfeige«. Denn nicht nur hätten sie sich gewünscht, dass mehr Neonazis und Unterstützer des NSU vor Gericht gelandet, die Strafen härter ausgefallen und das Warum und das Wer umfassend aufgeklärt worden wären. Vor allem wollten sie, dass das Gericht die Perspektive der Opfer und deren Angehörigen viel stärker in den Blick genommen hätte. Doch weil das Gericht dies nicht tat, nahmen sie sich selbst den Raum: Ihre Anwälte veröffentlichten ihre Plädoyers, sie selbst kamen in einer Publikation von Barbara John zu Wort, der NSU-Ombudsfrau der Bundesregierung. Und die Bühne für Menschenrechte gab ihnen mit den »NSU-Monologen« eine Stimme. Nun hat auch die unabhängige Beobachterstelle NSU-Watch den Angehörigen und Opfern ein Buch gewidmet: »Aufklären und Einmischen - Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess« stellt jene in den Vordergrund, die von den NSU-Terroristen ermordet wurden: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat.
Das Buch ist aufgeteilt in acht Kapitel. Sechs davon beschäftigen sie sich jeweils mit den verschiedenen Akteursgruppen rund um den Gerichtsprozess, jedoch immer unter dem Blickwinkel der Opfer und Angehörigen. Und damit steht auch ihre Kritik durch das Buch, dass der Prozess das Netzwerk des NSU kaum aufgeklärt habe.
Dabei war dies das erklärte Ziel von Kanzlerin Angela Merkel, als sie im Februar 2012 auf der zentralen Trauerfeier für die NSU-Opfer in Berlin sagte: »Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.« Dieses Versprechen wurde nicht erfüllt. Nicht durch das Gericht und auch nicht durch die vielen Untersuchungsausschüsse in Bundes- und in Landesparlamenten. Noch immer ist weder bekannt, warum und wie der NSU seine Opfer aussuchte. Noch, wer Mitwisser war und ob es jeweils Helfer vor Ort gab. Die Richter hätten versucht, »den Anschein umfangreicher Aufklärungsbemühungen zu erwecken«, schreibt NSU-Watch in Kapitel fünf, indem sie vor allem am Anfang langsam vorgingen, Umwege beschritten und beispielsweise die Frage um die Mitwisserschaft des Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas Temme viel Raum gaben. Doch am Ende habe sich gezeigt, dass er an weiterer Aufklärung »kein echtes Interesse« hatte.
Stattdessen hielt das Gericht die These aufrecht, der NSU habe aus drei Personen plus wenigen Unterstützern bestanden. Vor allem im dritten Kapitel, das sich mit den Angeklagten beschäftigt, zeigt NSU-Watch auf, warum die Trio-These falsch ist: Alleine wären sie viel früher aufgeflogen. Kameraden mieteten Wohnungen für Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt, eine Bekannte - vielleicht auch eine nahe Freundin - gab Zschäpe ihre Krankenkassenkarte, damit diese zum Arzt gehen konnte. Unterstützer besorgten Waffen, Geld, Jobs.
Vieles bei den Morden und Anschlägen deutete darauf hin, dass die Mörder mindestens Kundschafter vor Ort hatten. So legt NSU-Watch dar, dass bei der Taschenlampenbombe in Nürnberg gerade erst ein Pächter migrantischer Herkunft das Lokal übernommen hatte. Die Änderungsschneiderei, in der Abdurrahim Özüdogru ermordet wurde, hatte unregelmäßige Öffnungszeiten, Özüdogru betrieb sie nur nebenher, und dennoch wussten die Mörder, wann sie zuschlagen konnten.
Nur wenige Unterstützer landeten auf der Anklagebank: Ralf Wohlleben und Carsten Schultze hatten die Ceska besorgt beziehungsweise haben sie weitergegeben, mit der neun der Morde verübt wurden. André Eminger hatte eine Wohnung für das Trio angemietet, ihnen Bahncards besorgt, mietete die Wohnmobile, mit denen Uwe Böhnhardt zu drei Tatorten fuhr und half Beate Zschäpe bei der Flucht. Holger Gerlach besorgte einen Pass für Böhnhardt und eine Krankenkassenkarte für Zschäpe. Im Prozess selbst wurden weitere Neonazis als Zeugen gehört und der Neonazi-Ideologie des NSU mehr Raum gegeben als in der Anklage vorgesehen war, hebt NSU-Watch hervor. Doch ansonsten waren die Aufklärungsbemühungen eher gering. Richter, Staatsanwälte handelten vor allem auf der Grundlage, »dass das Wohl des Staates und seiner Behörden besonders« zu schützen sei, erklärt NSU-Watch im Kapitel über die Bundesanwaltschaft - und dazu gehörten eben auch die Verfassungsschutzämter, deren Mitarbeiter und V-Personen, die zuhauf in der rechtsextremen Szene rund um den NSU anzutreffen waren - und möglichst nicht enttarnt werden sollten.
Zwar ist ein sogenanntes Strukturermittlungsverfahren noch nicht abgeschlossen. Doch auch dieses erfüllt seinen Zweck, Staat und Behörden zu schützen, so NSU-Watch: Es liege der Schluss nahe, »dass es der BAW (Bundesanwaltschaft, Anmerk.d.Red.) vor allem dazu diente, in den Ermittlungsakten Material nahezu unzugänglich zu parken, das im Münchener Prozess keine Rolle spielen sollte«.
Sollte der Bundesgerichtshof der Revision stattgeben, muss der Fall auch gerichtlich noch einmal aufgerollt werden. Noch liegen die Akten nach nd-Informationen bei der Bundesanwaltschaft. Wann diese ihre Prüfung abgeschlossen hat, ist bisher nicht absehbar. Doch wahrscheinlich werden auch im möglichen Revisionsverfahren Richter und Staatsanwälte dem Netzwerk hinter dem NSU auch keine größere Bedeutung beimessen. Die Hoffnung bleibt, dass parlamentarische Untersuchungsausschüsse dazu beitragen können. So läuft der UA in Mecklenburg-Vorpommern noch bis etwa Frühjahr 2021. Mit einer Petition auf change.org fordern zudem Aktivist*innen einen zweiten Untersuchungsausschuss in Bayern. Und in Hessen haben Abgeordnete einen Untersuchungsausschuss zum Mordfall Walter Lübcke initiiert, in dem sie auch Verbindungen des mutmaßlichen Mörders des Kasseler Regierungspräsidenten zum NSU-Netzwerk herausarbeiten wollen. Von einem Schlussstrich unter den NSU ist man also noch weit entfernt.
NSU-Watch: Aufklären und einmischen: Der NSU-Komplex und der Münchner Prozess. brosch., 232 S., 18 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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