Die Angst und die Liebe

Ein Roman gegen das Vergessen und für die Freiheit in Belarus: »Rote Kreuze« von Sasha Filipenko

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 4 Min.

Zu den auffälligen Trends der russischen wie der belorussischen Gegenwartsliteratur gehören konsequente Kampfansagen gegen das Vergessen. In Russland wird dieser Kampf vor allem von Vertretern der jüngeren Schriftstellergeneration wie Sergej Lebedew (geb. 1981) oder Maria Stepanova (geb. 1972) geführt. In Belarus setzt sich die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch seit Jahren mit diesem Thema auseinander. Jetzt übernimmt der junge Schriftsteller Sasha Filipenko in Belarus im Kampf gegen das Vergessen und die Geschichtsverdrehungen den Staffelstab.

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Sasha Filipenko: Rote Kreuze.
A. d. Russ. v. Ruth Altenhofer. Diogenes, 287 S., geb., 22 €.

Filipenko, 1984 in Minsk geboren, schreibt auf Russisch, obwohl er von sich sagen muss: »In Russland bin ich kein russischer, in Belorussland kein belorussischer Schriftsteller.« Er ging 2004 nach Petersburg, studierte französische Literatur und arbeitete danach als Drehbuchautor und Moderator für russische Fernsehsender. Heute lebt er in Petersburg und veröffentlichte von 2014 bis 2019 fünf Romane. Sein künstlerisch bisher stärkstes Werk ist der Roman »Rote Kreuze«, der dieses Jahr bei Diogenes erschien.

Es gibt in dem Buch eine Vergangenheits- und eine Gegenwartsebene, dazu zwei Protagonisten: die 91-jährige Tatjana Alexejewna und den 30-jährigen Alexander. Beide begegnen sich 1999 in Minsk, dem »Bruderland«, in dem sie sich fremd fühlen.

Tatjanas Eltern lernen sich 1909 in Paris kennen. Die Mutter stirbt bei der Geburt Tatjanas. Der Vater übersiedelt nach London und geht 1920 nach Moskau, weil er an die Losung vom »neuen Menschen« glaubt. Ab 1924 ist er in der Schweiz für die Sowjetunion tätig. Tatjana, die ihn immer begleitet hat, studiert in Moskau und wird Sekretärin im Außenministerium. Aus ihrer Ehe mit dem Architekten Ljoscha Pawkow geht die Tochter Assja hervor. Während des »Großen Terrors« 1936/38 beginnt für Tatjana die Angst. 1945 wird sie verhaftet und zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt; 1957 erfolgt die Rehabilitierung. Was Tatjana in dieser Zeit an Gewalt, Grausamkeit und Demütigung erfährt, lässt sich kaum wiedergeben. Ihr in Kriegsgefangenschaft geratener Mann wurde von einem dumpfbackigen Stalinisten denunziert. Tatjana indes sucht lange die Schuld bei sich, weil sie Ljoschas Namen aus Angst um sein Leben aus einer vom Roten Kreuz zusammengestellten Kriegsgefangenenliste getilgt hat.

Zahlreiche Dokumente des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Briefe und Telegramme an das sowjetische Außenministerium zum Gefangenenaustausch oder zur Gefangenenhilfe sind dem Roman beigefügt. Filipenko und sein Freund Konstantin Boguslawski haben sie in Genfer Archiven gefunden. Der Autor lässt sie durch die Hände der jungen Tatjana gehen, die sie aus dem Französischen übersetzen muss und sich fragt, warum alle Hilfsangebote aus Genf von Molotow und Wyschinski mit einem kategorischen Njet versehen werden. Im Gulag wird Tatjana sich den Glauben an Gott zu eigen machen - nicht um zu beten, sondern um Gott anzuklagen, dass er so viel Not und Leid zulässt. Diese Einstellung verfestigt sich, als sie endlich erfährt, dass ihr Mann Ljoscha nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft erschossen wurde und ihre Tochter Assja in einem Kinderheim verhungert ist.

Alexander ist von Beruf Fußballschiedsrichter. Er will in Minsk ein neues Leben beginnen und richtet für sich und seine dreimonatige Tochter Lisa eine Wohnung ein. Anfangs hört er seiner Nachbarin nur unwillig zu. Warum sollte ihn auch die Geschichte der alten Dame interessieren, ist doch gerade Lana, seine Frau und Lisas Mutter, gestorben, die Liebe seines Lebens.

Jeder der beiden Protagonisten ist stark, physisch und mental, trägt seine Last mit Würde. Alexander distanziert sich von seinem Stiefvater, der überzeugt ist, die Schrecken des Gulag seien eine Erfindung der Opfer. Die Ereignisse von 2001 in Minsk, vergleichbar mit den heutigen Massendemonstrationen gegen den Machthaber Lukaschenko, bilden den Höhepunkt des Romans. Tatjana und Alexander stehen gemeinsam mit empörten Bürgern den Bulldozern gegenüber, die in dem Ort Kuropaty, wo der NKWD jahrelang Massenerschießungen durchführte, die Kreuze auf den Gräbern der Opfer umpflügen wollen.

Der Roman überzeugt durch einen lakonischen, rhythmisch akzentuierten Stil, der von der Fernseharbeit des Autors und von seiner Vorliebe für moderne französische Literatur (Céline und Camus) beeinflusst ist. Das auffälligste Merkmal der Textgestaltung ist der permanente Wechsel der Erzählperspektive. Als personale Erzähler berichten Alexander und Tatjana abwechselnd dem Leser ihre Lebensgeschichten, während Dialoge, innere Monologe und ein großer Block offizieller Dokumente die Darstellung ergänzen. Damit ist Filipenkos leidenschaftliches Plädoyer für Freiheit und Demokratie in Belarus auch ein anspruchsvolles literarisches Kunstwerk.

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