Düsteres Knistern und Knacken
Nun gibt es das Album »Heroin« auf Platte - auch fast 20 Jahre nach Erstveröffentlichung ist es kein bisschen gealtert
»Abandoned piers, distant crowds, hidden faces«, also verlassene Piers, ferne Menschenmengen, verborgene Gesichter seien an seinem inneren Auge beim Hören von »Heroin« vorbeigezogen, schrieb der Musikkritiker Mark Richardson vor zwanzig Jahren. Das Album von Ekkehard Ehlers und Stephen Mathieu erschien zuerst 2001 als CD auf dem Kleinstlabel Brombron und wurde dann 2003 auf einem anderen Kleinstlabel mit dem schönen Namen Orthlorng Musork wiederveröffentlicht. Jetzt ist »Heroin« zum ersten Mal auf Vinyl erschienen, als Doppel-LP, mit einem Remix von Thomas Brinkmann oben drauf. Man merkt der Musik ihr für Popverhältnisse ja schon recht stattliches Alter nicht an. Was klingt wie das auditive Äquivalent zu einem mutwillig zerkratzten Schwarzweißfilm, altert nicht.
Ein paar Jahre später wurden dergleichen Klänge unter dem Stichwort »hyp-nagogic pop« besprochen: Musik, der es durch das verwendete Sample-Material, vor allem aber in der Entfaltung einer nicht klar bestimmbaren Atmosphäre gelingt, das Gefühl einer Erinnerung an einst uneingelöste Versprechen wachzurufen. Man spürt es, wenn man es hört: etwas anderes (und mehr) als Nostalgie. Vielleicht Nostalgie ohne Bequemlichkeit, weil die Klanggestaltung einen hier immer auch daran erinnert, dass all die Versprechen auf Glück, die von der Musik wachgerufen werden, doch immer schon bröckelig gewesen sind.
Sehnsucht ist die einzige ehrliche Eigenschaft des Menschen, behaupten Ernst Bloch und »Heroin«. Im Einzelnen: »Heroin« beginnt und endet, gleichsam als Klammer, mit dem Sample eines Silvesterfeuerwerks, darüber eine getragenen Orgelmelodie: »New Years Eve«. Simple Mittel, der Effekt ist durchschlagend, der Beginn des Wärmestroms, man will es immer wieder hören. »Rose« spinnt das Prinzip weiter, lakonische Orgel, dahinter sanft rhythmisch-schubbernde Störgeräusche.
Der »Turkey Song« mangelt Vince Guaraldis »Christmas Time Is Here« so lange durch die Filter, bis nur noch ein entkörperlichter, irrealisierter Rest herüberweht, wie unter Wasser aufgenommen. Einer der psychedelischsten Augenblicke dieser an jenseitigen Momenten nicht armen Platte. Danach wird es düsterlicher, es rauscht zärtlich (»Supertramp«, »Heroique«), pluckert auch mal wohlig-warm (»Joshuas Theme«) und treibt an mindestens einer Stelle die Brüchigkeit der Klänge so weit es eben geht, kurz bis vor den Punkt, an dem die Melodie sich ganz auflösen würde (»Vinnies Theme«).
Das Herzstück von »Heroin«, das sinnigerweise den Titel »Herz« trägt, wurde für die Wiederveröffentlichung auf die erste Seite der zweiten Platte der Doppel-LP verlagert: ein typisches und formvollendetes Stück 90er-Jahre-Electronica, Glitch nannte man das damals, Musik, in der präzise angeordnete Störgeräusche Träger von Bedeutung werden. »Heroin« erschien, bevor dergleichen zum Klangklischee erstarrte. Wie es Ekkehard Ehlers überhaupt gelungen ist, der schlechten Routine durch Erschließung neuer musikalischer Stränge zu entkommen - Techno, Folk, Moderne Komposition. Ehlers war immer schon woanders, und seine Musik immer zu spröde für die Lounge.
Mit Stephen Mathieu (dessen Arbeit, wie zum Beispiel sein wunderschönes Album mit Ambient-Coverversionen von Bill-Callahan-Stücken, an dieser Stelle aus Platzgründen leider zu kurz kommen muss) nahm Ehlers wenig später noch ein Stück für die »Ekkehard Ehlers Plays«-Serie auf, das zweite auf der »John Cassavetes«-EP: Es ist ein Sample aus dem Beatles-Song »Goodnight«, geloopt und so verfremdet, dass er zugleich abstrakter und herzerweichender klang als das Original. Vielleicht ist Ekkehard Ehlers auch einfach einer der wenigen an Konzepten, Neuer Musik und seltsamen Klängen interessierten Electronica-Musiker hierzulande, die den Blues haben - und zwar heftig.
Stephan Mathieu und Ekkehard Ehlers: »Heroin« (Kepler)
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