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Verloren im All
»Aniara« ist die packende Verfilmung eines schwedischen Science-Fiction-Klassikers - nun ist die Odyssee durch die Weiten des Weltraums endlich im Stream zu sehen
Einen Literaturnobelpreis für Science-Fiction gab es schon einmal. Das war 1974, als der schwedische Schriftsteller Harry Martinson den Preis für sein literarisches Gesamtwerk erhielt, in dem das 1956 verfasste, gut 80-seitige Versepos »Aniara. Eine Revue von Menschen in Zeit und Raum« eine zentrale Rolle einnimmt. 1959 machte Karl-Birger Blomdahl eine Oper daraus, die auch heute noch aufgeführt wird. 2018 verfilmten die schwedischen Regisseure Pella Kågerman und Hugo Lilja den Stoff, wobei »Aniara« hierzulande nicht in die Kinos kam, jetzt aber bei Amazon Prime zu sehen ist und sicher zu den interessantesten Science-Fiction-Filmen gehört, die uns dieses Jahr geboten werden.
Ein wenig erinnern die Motive dieses Werks - die Weite des Alls, die Gefährlichkeit der Raumfahrt und die Verlorenheit des Menschen in dieser lebensfeindlichen Umwelt - an Iwan Jefremows epochalen Roman »Andromedanebel«, der ebenfalls in den späten 1950er Jahren entstand und zum Meilenstein der osteuropäischen Science-Fiction-Literatur wurde. Martinson Epos erzählt die Geschichte eines riesigen Transportraumschiffs, das mehrere Tausend Menschen von der durch Katastrophen beinahe zerstörten Erde auf den Mars bringen soll. Der Standardflug des titelgebenden Raumschiffs Aniara, das die Ausmaße einer kleinen Stadt hat, soll nur drei Wochen dauern. Aber es kommt gleich zu Beginn der Reise zu einem unwahrscheinlichen Zwischenfall, bei dem Weltraumschrott (gerade mal eine kleine, durchs All flitzende Schraube) die Tanks trifft.
So kommt es zu einem Brand, aus Sicherheitsgründen muss der nukleare Treibstoff abgelassen werden. Dadurch ändert sich aber der Kurs, der nicht mehr korrigiert werden kann und das Schiff fliegt unvermindert mit annähernd Lichtgeschwindigkeit in die Tiefe des Alls hinein. Trifft die Aniara irgendwann auf einen Himmelskörper, um ihn zu umrunden und so den Rückflug anzutreten oder steuert sie ungebremst weiter? Denn während sie mit über 60 Kilometer pro Sekunde durchs All rast, bewegt sie sich in der scheinbaren Unendlichkeit des Raums kaum fort. Auf dem Raumschiff, das mit seinen Restaurants, Schwimmbädern, Kegelbahnen und anderen Freizeiteinrichtungen an ein Kreuzfahrtschiff der Luxusklasse erinnert, wächst die Verzweiflung, während der autoritäre Ton des Kapitäns zunimmt.
Erzählt wird dies aus der Perspektive des Crewmitglieds Mimarobe, deren Aufgabe es ist, eine Künstliche Intelligenz namens Mima zu betreuen, die im Lauf der jahrelangen Reise zu einem der wichtigsten Orte auf dem Schiff wird. Denn Mima, ein schillerndes und pulsierendes Lichtfenster an der Decke einer Halle, kann die Gedanken, Erinnerungen und Hoffnungen der Menschen in Bilder umsetzten, die zu einer virtuellen Realität werden, in die man eintreten kann. Mima wird zur Droge, um dem alles bestimmenden Horror der Verlorenheit zu entfliehen, aber auch zu einem Therapieort. Denn die Künstliche Intelligenz bietet die Möglichkeit, in den Weiten des Alls durch die Wälder und Flusslandschaften der eigenen Erinnerung zu laufen.
Aber Mima ist nicht einfach eine Maschine, sondern hat auch ein Bewusstsein. Die Künstliche Intelligenz leidet mit der Zeit unter den immer finsteren und verzweifelter werdenden Gedanken und Empfindungen der Menschen und kollabiert schließlich. Mimarobe wird dafür verantwortlich gemacht und landet für einige Zeit sogar im schiffseigenen Gefängnis. Die Jahre vergehen, Kinder werden geboren, die Versorgungslage mit den an Bord gezüchteten Algen wird immer schwieriger und das Schiff gleicht immer mehr einem heruntergekommenen, zugemüllten Einkaufzentrum. Es kommt zu Unfällen, immer mehr Menschen sterben und auch die Suizide werden dramatisch mehr, während einige einfach ungebremst feiern und andere religiöse Rituale abhalten. Bis plötzlich wieder Hoffnung aufkommt, als eine Versorgungsrakete mit Treibstoff gesichtet wird. Kann das die Wende sein?
»Aniara« bietet einen verstörenden Blick in die Abgründe menschlicher Verzweiflung angesichts einer ausweglosen Situation. Das wird großartig inszeniert, geht aber im Laufe der fortschreitenden Handlung fast bis an die Grenze des Erträglichen. Wobei zugleich auf der Aniara auch tiefe Freundschaften und (nicht nur heteronormative) Liebesbeziehungen voller Leidenschaft und Solidarität entstehen. Schließlich driftet das gigantische Schiff einfach immer weiter durch einen nicht enden wollenden Weltraum, wobei der Film in der Schlussszene mit einem sehr verstörenden Ausblick auf ein mögliches Ende dieser Irrfahrt aufwartet.
»Aniara« auf Amazon Prime.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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