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Queere Feiertage
Zwischen Drag-Performance, Musical und Happening: Taylor Mac hat den Ibsen-Preis erhalten, die neue Weihnachtsshow »Holiday Sauce … Pandemic!« feierte ihre Premiere im Stream
Der Dramatiker Henrik Ibsen war ein Verfechter der vierten Wand im Theater. Das Publikum sollte in der Dunkelheit verschwinden, während die Schauspieler*innen auf der Bühne in einer abgeschlossenen Illusion ein Stück Lebenswelt darstellten. Eine direkte Interaktion mit den Zuschauer*innen ließ der natürliche, wirklichkeitsgetreue Schauspielstil nicht zu. Mit dem Internationalen Ibsen-Preis, der seit 2007 vom norwegischen Staat im Geiste des Naturalisten an Theaterkünstler*innen vergeben wird und mit einem üppigen Preisgeld von fast 300 000 Euro verbunden ist, wurden unter anderem Peter Brook, Ariane Mnouchkine, Heiner Goebbels, Peter Handke und Christoph Marthaler geehrt. In diesem Jahr ging er an eine*n US-amerikanische*n Performer*in und Autor*in, welche*r die vierte Wand konsequent durchbricht: Taylor Mac. Die Preisverleihung fand am vergangenen Freitag statt.
Im Herzen der Shows von Taylor Mac zwischen Drag-Performance, Musical und Happening steht die Interaktion mit dem Publikum. Zuschauer*innen werden selbst Akteur*innen, bewerfen sich mit Ping-Pong-Bällen oder werden dazu aufgefordert, liebevoll den Kopf der Sitznachbar*innen zu streicheln. In der Jury-Begründung heißt es entsprechend, Mac schaffe in einer Zeit der Atomisierung das Potenzial von Gemeinschaft. Das überschreitet zwangsläufig die Komfortzone des Publikums und eröffnet über das Theater hinaus einen neuen Blick auf queere Geschichte und Geschichten.
Ein Höhepunkt von Macs Schaffen ist der 24-Stunden-Pop-Exzess »A 24-Decade of Popular Music«. Die auf dem Broadway gefeierte Show wurde 2019 in vier Teilen in den Berliner Festspielen gezeigt. Eine euphorische Erfahrung, »bei der wir alle irgendwie zerrissen werden, aber auch Verbindungen miteinander knüpfen«, beschreibt judy es. Judy ist das von Mac bevorzugte Pronomen. Warum Mac sich für eines jenseits von er, sie oder they entschieden hat, beantwortete judy in einer Late-Night-Show einmal so: Für Menschen, die selbstgewählte Pronomen ablehnen, sei es unmöglich, genervt und augenverdrehend »judy« zu sagen, ohne ihre Position und sich selbst lächerlich zu machen.
1776 beginnend, singt und performt sich Mac mit viel Witz durch 24 Jahrzehnte US-amerikanische Geschichte. Auf queere Weise erzählt judy die Hits der jeweiligen Epoche um und schafft so eine Historie der Gegenkultur. In judys dieses Jahr ins Digitale verlagerter Weihnachtsshow »Holiday Sauce … Pandemic!« verfährt Mac ebenso lustig wie rücksichtslos mit den heteronormativen Traditionen, die mit den Feiertagen verwoben sind.
Eingerahmt von buntglänzendem Papier, präsentiert Mac sich in Reminiszenz an den Stil des Renaissance-Malers Giuseppe Arcimboldo. Auf judys Kopf thront Obst und Gemüse aus Plastik, das sich als Motiv im fantastischen Make-Up der Maskenbildnerin Anastasia Durasova fortsetzt. Versteckt hinter der glamourösen Ansammlung von Feld- und Wiesenfrüchten, hängt das Ikonenbild von Mother Flawless Sabrina. Judys 2017 verstorbenen Drag Mother ist die Feiertags-Extravaganza gewidmet. In Erinnerung an sie wird in jeder Stadt, in der die Show gespielt worden wäre, eine Queen gekrönt, die die queere Community langjährig unterstützt und gefördert hat. In Berlin erhielt die LGBT-Aktivistin Mahide Lein die Auszeichnung.
Wie in einer Vaudeville-Show des 19. Jahrhunderts ist der Abend mit einzelnen Nummern gefüllt, in der Weihnachtslieder mit Unterstützung vieler Gastperformer*innen eine Umdeutung durchlaufen und kulturelle Symbolfiguren erfunden werden. Alle Kinder, die in einer US-amerikanischen Mall gegen ihren Willen auf dem Schoß des Weihnachtsmanns sitzen mussten, können nun aufatmen. »Sexual Consent Santa« fragt vorher nach Einverständnis. Für die ästhetische Strategie des Abends, Besinnlichkeit auf Acid, ist maßgeblich der Kostüm- und Bühnenbildner Machine Dazzle verantwortlich. Nach seinem Leitspruch »Glitter rhymes with Litter« (»Glitzer reimt sich auf Müll«) vermischt sich Opulenz mit kitschigem Kinderspielzeug. Als überbordend mit Lametta behängter Weihnachtsbaum tritt Dazzle selbst auf und hält den inneren Monolog einer Tanne, die ihren Selbstwert erkannt hat. You go tree!
Das virtuelle Vaudeville ist eine Feier des Zusammenhalts in düsteren Weihnachtszeiten. So ist auch das erste Lied »Oh Holy Night« eine gemeinsame Mitmach-Performance, in der Zeilen wie »fall on your knees« (»Fall auf die Knie«) in der tänzerischen Auslegung eine sexuelle Relektüre erfahren. Die Dekonstruktion ist nicht nur sehr komisch, sie hat auch einen Service-Faktor. Um die toxischen Gespräche mit der nicht so queeren Verwandtschaft aufzufangen, werden Substitutionsfähigkeiten und Bewältigungsmechanismen eingeübt. Sollte das nicht ausreichen, rät Mac, einen Eierlikör-Engpass vorzutäuschen und statt den Supermarkt die nächste Schwulenbar aufzusuchen.
In judys unterhaltsamen und komischen Bühnenauftritten verfolgt der*die jüngste und einzige außereuropäische Ibsen-Preisträger*in Taylor Mac eine politische Strategie, die nach Darstellung und Erzählung von Queerness fragt und queere Gemeinschaft herstellt. Besonders nach der Veröffentlichung von Judith Butlers »Das Unbehagen der Geschlechter« im Jahre 1990 gerieten Drag-Performances als subversive Praxis in den Fokus. In dieser Form der Gender-Parodie steckt der Queertheoretikerin zufolge die Möglichkeit zu entlarven, »dass die ursprüngliche Identität, der die Geschlechtsidentität nachgebildet ist, selbst nur eine Imitation ohne Original ist«. Drei Jahre später führt sie aus, dass Drag nicht notwendig subversiv sei, da es sowohl zur Reidealisierung als auch zur Entnaturalisierung binärer Geschlechternormen beitragen könne. Es bleibt jedoch ein Beispiel dafür, dass in der abweichenden Wiederholung von Identität Veränderung möglich ist.
Aus dem Blick gerät Butler bei diesen Überlegungen die Kollektivität der Praxis. Bini Adamczak weist in »Beziehungsweise Revolution« daraufhin, dass weniger der individuelle subversive Akt etwas Revolutionäres in sich trägt, sondern vielmehr die Beziehungsweisen, die während einer Aufführung oder innerhalb der Gemeinschaften geknüpft werden. Die feministisch-marxistische Theoretikerin verschiebt den Fokus von der Möglichkeit eines queeren Seins auf queere und solidarische Verbindungen, in denen die Verheißung eines fürsorglichen Miteinanders aufscheint. Die Auflösung patriarchaler Familienzusammenhänge, die Mac in einem Lied über die Feiertage mit der Wahlfamilie besingt, schafft antikapitalistische Lebensformen.
Taylor Macs rauschhafte Shows zeichnen sich dadurch aus, dass sich bereits in der Aufführungspraxis ein besonderes Verhältnis zueinander herstellt. Das gelingt judy sogar über die Distanz des Streams, in dem die Zuschauer*innen immer wieder einbezogen werden und die After-Show-Party die queere Community mit weiteren Drag-Performances feiert. In der nächsten Live-Show kann sich Macs unfassbare Präsenz und die Macht der Kollektivität wieder vollumfänglich entfalten. Bis dahin kann »Holiday Sauce … Pandemic!« mit den »queery peers« auf der Website der Berliner Festspiele angeschaut werden.
Taylor Macs Stück »Holiday Sauce … Pandemic!« ist bis zum 2. Januar als Stream auf www.berlinerfestspiele.de zu sehen.
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