Libanesen stehen im Regen

Trotz vieler Hilfszusagen kommt der Wiederaufbau in Beirut kaum voran, die Wirtschaftskrise galoppiert

  • Karin Leukefeld, Beirut
  • Lesedauer: 5 Min.

Es wird Winter im östlichen Mittelmeerraum. Im Libanon prasseln Regen und Hagel auf die Erde nieder und setzen Häuser, Straßen und Plätze in wenigen Minuten unter Wasser, weil die Kanalisation teilweise zerstört ist. Die Libanesen kämpfen mit der Wirtschaftskrise, die sich durch zahlreiche Sanktionen gegen und Korruption im Land weiter verschärft. Sie kämpfen mit der politischen Krise um die Regierungsbildung. In der Finanzkrise haben die Menschen durch Inflation und Misswirtschaft von Regierung und Zentralbank ihre Ersparnisse verloren; Gehälter in Schulen und Krankenhäusern wurden gesenkt oder nicht mehr bezahlt. Jetzt belastet auch das Coronavirus die Bevölkerung und Wirtschaft, schließlich müssen auch die Folgen der Explosion im Hafen von Beirut am 4. August bewältigt werden.

An Plänen, um dem Libanon wieder auf die Beine zu helfen, fehlt es nicht. UNO-Organisationen, private Hilfsorganisationen, Europäische Union und die Weltbank, Staaten wie Frankreich, Deutschland und die USA - alle haben Programme für Reformen, Wiederaufbau, Nothilfe und Winterprogramme vorgelegt. Allein die EU, UNO und die Weltbank wollen dem Libanon Milliarden zur Verfügung stellen, sofern die politischen Eliten sich auf eine neue Regierung einigen können, die ein von den Geberländern und -organisationen formuliertes Reformprogramm umsetzen soll. Humanitäre Organisationen aus aller Welt konkurrieren um Spenden, mit denen ihre spezifischen Projekte im Libanon umgesetzt werden sollen. Auch vier Monate nach der Explosion trifft man sie am Ort des Geschehens, doch Fortschritte gibt es nicht.

Die Explosion am 4. August traf besonders stark das Stadtviertel Gemmayzeh, wo viele Jahrhunderte alte Häuser ganz oder teilweise zerstört wurden. Auch vier Monate später ist die Zerstörung deutlich zu sehen. Wenige Geschäfte haben neue Türen erhalten oder einen neuen Anstrich. Manche Häuser haben ein Gerüst, was auf Bauarbeiten hindeutet. Die Straße wurde gereinigt, zertrümmerte Autos wurden abtransportiert, das Militär zog auf, um Plünderungen zu verhindern. In Zelten bieten Hilfsorganisationen aus aller Welt den Menschen Hilfe an. Junge Leute mit farbigen Westen, auf denen das Emblem der jeweiligen Organisation prangt, warten auf Hilfesuchende, diskutieren untereinander und sind ab und zu mit Personen im Gespräch, die sich schüchtern erkundigen, was die Organisation denn anzubieten habe. Container für Kleidung sind aufgestellt, an den Wänden kleben Plakate und Hinweise mit Telefonnummern.

Ärzte ohne Grenzen, Mercy USA, Aid Lebanon Now, International Medical Aid, Joint Christian Comitee, Response, Restart sind nur einige Namen, die auf Westen, Zelten oder Transparenten zu lesen sind. Das Libanesische Rote Kreuz hat sich in einer alten Lagerhalle einquartiert und am Tor einen Sicherheitscheck installiert. Bei den anderen Organisationen werden Gesundheitschecks und Erste Hilfe angeboten, es gibt psychologische Beratung; Frauen, die über Gewalt zu Hause klagen, werden an ein Zentralbüro vermittelt. Die Organisation Aid Lebanon Now, die mit der UNO kooperiert, verteilt Wassertanks an die Familien. Da aber die meisten Häuser und Wohnungen nicht bewohnbar sind, wird zunächst eine Liste der betroffenen Familien erstellt.

Das Christliche Komitee (Joint Christian Comitee) verteilt Geldspenden und Gutscheine, damit die Betroffenen sich Lebensmittel oder auch Küchengeräte und Haushaltsgegenstände kaufen können. Die Organisation bietet ihre Hilfe nur Personen an, die aus den von der Explosion betroffenen Vierteln stammen, erzählt die 19-jährige Designerin Larissa Habib, die beim Komitee mitarbeitet. Wer kommt, muss sich ausweisen. Das Komitee sei während des Krieges 2006 in einem palästinensischen Flüchtlingslager gegründet worden, erzählt sie. Finanzielle Hilfe käme aus Deutschland und von der Europäischen Union, aber auch aus Ägypten. Die Menschen bräuchten jedoch viel mehr, als was man ihnen geben könne, meint Larissa Habib. »Vor dem Winter sollten ihre Wohnungen wieder bewohnbar sein, aber dabei können wir nicht helfen.« Einige hundert Meter weiter verteilt die libanesische Armee Brot und andere Lebensmittel.

Anfang kommenden Jahres könnten die bisherige Subvention von wichtigen Importgütern wie Medikamenten, Öl und Weizen eingestellt werden, warnte kürzlich der Direktor der Libanesischen Zentralbank, Riad Salameh. Der Kauf dieser Waren auf dem internationalen Markt muss mit US-Dollar bezahlt werden, die die Zentralbank den libanesischen Importeuren zum alten Wechselkurs von 1500 Libanesischen Pfund zur Verfügung stellt. Aufgrund der Inflation kostet ein US-Dollar mittlerweile zwischen 4000 und 8000 Libanesischen Pfund, und auch die Zentralbank könnte höchstens noch zwei Monate US-Dollar zum alten Wechselkurs herausgeben, sagte Salameh. Dann müsse die Subventionierung eingestellt werden.

Das hätte schwerwiegende Folgen nicht nur für die 300 000 Personen, die bei der Hafenexplosion ihre Wohnungen verloren haben. Für alle Libanesen würden sich die Preise für Benzin und Heizöl, für Medikamente und auch für Brot und Weizenprodukte massiv verteuern. Doch auch der Internationale Währungsfonds, mit dem der Libanon über einen Kredit verhandelt, will staatliche Subventionen einstellen.

Die UN-Kommission für Wirtschaft und Soziales für Westasien (ESCWA) warnt vor einer Hungersnot im Libanon. Wegen Wirtschaftskrise, Inflation und Sanktionen, die den Handel für und aus dem Libanon blockieren, seien mehr als die Hälfte der Libanesen nicht mehr in der Lage, ihre tägliche Ernährung zu sichern. Priorität müsse daher der Wiederaufbau der zerstörten Weizensilos im Hafen haben, forderte die ESCWA-Vertreterin Rola Dashti.

Wer kann, kehrt dem Land den Rücken. Mehr als 60 000 zumeist junge, gut ausgebildete Libanesen haben das Land seit Anfang 2020 verlassen, um Arbeit in den Golfstaaten oder andernorts zu finden. Zurück bleiben die Schüler*innen und Student*innen, die - wie überall auf der Welt - besonders unter der Coronakrise leiden. Zurück bleibt die alte Generation, die Libanon auf keinen Fall noch einmal verlassen will wie während des Bürgerkrieges zwischen 1975 und 1990. Zurück bleiben die palästinensischen Flüchtlinge, die nach wie vor in Lagern auf engstem Raum leben und zusätzlich rund 30 000 Palästinenser aus Syrien aufgenommen haben. Und, auch wenn viele syrische Familien wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sind, weil das Leben im Libanon unerträglich wurde, es hoffen noch immer rund eine Million syrische Flüchtlinge im Libanon auf Hilfe. Wie aber soll Libanon helfen, wenn das Land selber Hilfe braucht?

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