Hörlust des Denkens

In »Die Erotik des Ohrs« schreibt die Philosophin Iris Dankemeyer über musikalische Erfahrung als Geheimwissenschaft - anhand der Biografie Theodor W. Adornos

  • Martin Mettin
  • Lesedauer: 5 Min.

Im Kanon der akademischen Philosophie wurde Theodor W. Adorno posthum ein Platz als Meisterdenker zugewiesen. Ob bewundert oder verteufelt: Seine Texte werden an den Universitäten hoch und runter gelesen. Das Feuilleton derweil liebt es, aus dem privaten Nähkästchen dieser »Geistesgröße« schlüpfrige Details auszuplaudern. Notorisch kursieren so Altherrenerzählungen über die Affären des Professors. Dies dürfte denn wohl auch das Erste sein, was einem (als patriarchal eingefärbtes) Klischee zum Thema Erotik bei Adorno einfällt. Kanonisierung und Klischee aber sind beide falsch, denn der Herzschlag der Kritischen Theorie lässt sich nicht ins Lehrbuch zwingen, und ihren Geist ekelt es beim Vorurteil. Warum dies so ist und dass es so sein muss, zeigt auf bestechende Weise Iris Dankemeyer in ihrem Buch »Die Erotik des Ohrs. Musikalische Erfahrung und Emanzipation nach Adorno«. Ist nämlich der lustvolle Eros nicht nur Sache von Personen, sondern eine der Philosophie, sofern sie mit den Ohren denkt, so ist das Nachdenken über und in Sprache und Musik, schließlich über und in Gesellschaft, selbst leidenschaftlich, anziehend und lebendig: erotisch.

Es ist ein schönes Buch, das Iris Dankemeyer hier vorgelegt hat. Eine Schönheit, die den Wissenschaftsbetrieb provoziert. Allein schon das Cover, das einen jungen und wenig bekannten Adorno zeigt, den die akademische Rezeption weitestgehend vergessen hat. Das Schwanken zwischen Künstlerdasein und einer philosophischen Laufbahn ist ihm noch anzumerken. Dankemeyers Buch folgt im ersten Teil den Stationen seines Weges vom enthusiastischen Kompositionsschüler Alban Bergs im Wien der 1920er Jahre bis zum Ordinarius für Soziologie und Philosophie im Nachkriegsdeutschland. Dabei umgeht es konsequent den vermeintlichen Hauptschauplatz der sogenannten Frankfurter Schule - und damit den Fokus der offiziellen Wissenschaftsgeschichte. Diese Freiheit der Perspektive ermöglicht es erst, die »empfindlichen Stellen« im Werk Adornos aufzuspüren, gerade weil sich hier biografische Erfahrungen und Theorie überschneiden.

Besonders deutlich wird das im Aufeinanderprallen der ersten beiden Denkorte, Wien und New York. Mit vehementem Einspruch gegen den Mainstream der Adorno-Rezeption, die dessen Kritik der Populärmusik und das Festhalten an autonomer musikalischer Avantgarde als gestrig und elitär abstempelt, berührt Dankemeyer in der Tat den neuralgischen Punkt von Adornos Musikphilosophie: »Im Wiener Schönbergkreis kommen in Adornos Vorstellung zwei reziproke Emanzipationsversprechen zusammen, zum einen ein Innenreich unendlicher Schöpfungskraft mit Luftschlössern voll erfüllter Wünsche, das jedem den richtigen, den eigenen Platz freihält, zum anderen eine Realität gelebter Solidarität aufgrund der gemeinsamen Sache, in der die allgemeine Produktion es jedem ›möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren‹. In dieser wahren Welt, die es bisher nur zwischen den Ohren gibt, könnten alle das Leben freigiebiger und lustbetonter Grafen leben. (Sogar die Gräfinnen!)«

Obwohl Dankemeyer auch im Pop gelegentliche Emanzipationsstrebungen nicht von der Hand weist, ist dessen Grundmodell zum künstlerischen grundverschieden: »Kunst verspricht und sublimiert. Pop vertröstet und sexualisiert.« Eine Sexualisierung wohlgemerkt, der gerade der Eros, die Leidenschaft abhandenkommt. Dafür steht die populäre New Yorker Musikjugend: »Die Lust wird gemindert durch das Fehlen von Vorlust und Spannung, des Abenteuers der Verführung und des Risikos der Zurückweisung. Die Lust wird durch unkomplizierte Sachlichkeit verhütet.« Zwar verdankt Adorno dem amerikanischen Exil, zunächst in New York, dann in Los Angeles, nicht nur sein Überleben, sondern auch entscheidende geistige Erfahrungen, eine Urbanität und Weltoffenheit seines Denkens. Und doch sind es vor allem die prägenden Erinnerungen seiner Wiener Jahre, die er noch als Vortragender bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik ab den 50er Jahren einer jungen Generation an Musikern vermitteln will.

Doch wozu eigentlich dieses Beharren auf Fragen der Ästhetik? Zu Recht konstatiert Dankemeyer bereits in ihrem »Vorspiel«, dass Adorno vor allem ein materialistischer Gesellschaftstheoretiker sei, dessen Denken »sachgemäß in eine ›innermarxistische Diskussion‹ gehört«, wobei »der ›Streit um Theorie und Praxis‹ nicht aufhören darf, bis er eben aufhören kann«. Auch das Versprechen der Kunst kann in dieser unfreien Gesellschaft nicht eingelöst werden, eine Veränderung der Welt zum Besseren bleibt Aufgabe politischer Praxis. Aber genau hier kommt - wie Dankemeyer im letzten Abschnitt des Buches zeigt - die Erotik der Ohren abermals ins Spiel, denn die akustischen Leidenschaften halten das Bewusstsein wach und offen für das, was in solcher Praxis unter keinen Umständen vergessen werden darf: »Uneingeschränkte Humanität kann nicht nur aufgeklärte Rechtspersonen und zivilisierte Vernunftwesen erfassen, sondern dürfte auch deren leibhaftige Verletzbarkeit nicht vergessen und müsste auch den enthusiastischen Phantasten ihre Stelle im menschlichen Geist freihalten. Im ›zivilisiert Natürlichen‹, im sprachlichen Vorstellungsvermögen, würden die Triebe weder gegängelt noch entfesselt, sondern aus Freiheit geformt.«

In der Lebensrealität der verwalteten Welt, der die Hoffnung auf eine in diesem Sinne bessere, schönere Gesellschaft zunehmend abhandenkommt, wird ein Denken, das solchen Wünschen die Treue hält, zur »Geheimwissenschaft«. Das adäquate Wahrnehmungsorgan für die verdrängten Begierden und Wünsche ist aber vielleicht weniger das Auge, das durch den Zivilisationsprozess hindurch zunehmend zum registrierenden, kategorisierenden, musternden Sinn wurde. Vom Hören erwartet man solch aktive Selbstbeherrschung nicht, ihm verzeiht man die nachsinnende, versunkene Passivität. Darum setzt die Geheimwissenschaft von der befreiten Gesellschaft auf die Sphäre der Akustik. In dieser Sphäre können sich Regungen einen Ausdruck verschaffen, die das fantasielose Alltagsbewusstsein allzu oft vergisst, denn »wie die Musik geben auch Bücher das Versprechen erfüllter Zeit - wer sich ihnen zuwendet, kann einsam, lautlos und unbewegt dasitzen und sich doch heimlich in bester Gesellschaft befinden und tief bewegt sein, ohne dass von der inneren Aufgewühltheit mehr als ein erstauntes Stöhnen oder ein zustimmendes Seufzen nach außen dringt. Hören und Lesen versammeln in sich verwandte paraerotische Verhaltensweisen; Neugier als Lust auf bisher Unbekanntes, die freie Verfügung und Verschwendung der eigenen Lebenszeit an fremde Worte, Gesten, Gebärden.«

Treffende Worte - auch und gerade für unschöne Zustände - sind im Denken die schönen Stellen, sie haben etwas Musikalisches. Dass nicht nur Adornos Texte diese musikalische Seite haben, sondern jedes kritische Denken sie haben sollte, daran erinnert auf beeindruckende Weise Iris Dankemeyers »Erotik des Ohrs«.

Iris Dankemeyer: Die Erotik des Ohrs. Musikalische Erfahrung und Emanzipation nach Adorno. Edition Tiamat, 408 S., br., 30 €.

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