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Stabile Lähmung

Zehn Jahre nach dem Aufstand des Arabischen Frühlings fehlen Tunesien politische Visionen

  • Sarah Mersch, Tunis
  • Lesedauer: 3 Min.

Auf dem Papier hat Tunesien viel erreicht - vor allem wenn man den kleinen Mittelmeerstaat mit anderen Ländern der Region vergleicht. Wie in mehreren Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens entstand in Tunesien vor zehn Jahren während des sogenannten Arabischen Frühlings eine breite Protestbewegung. Aber statt danach im Bürgerkrieg zu versinken wie Libyen, Syrien oder Jemen, oder erneut autoritär regiert zu werden wie Ägypten, genießt Tunesien relative Freiheit und Stabilität: Das Land hat eine neue Verfassung, die auf einem breiten politischen Konsens fußt.

Seit 2011 wurden mehrfach Parlaments-, Präsidentschafts- und Kommunalwahlen abgehalten, die von tunesischen und internationalen Beobachtern als vergleichsweise frei und transparent eingestuft wurden. Das ist eine Premiere in der Geschichte des Landes, das seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1956 bis zum Sturz von Zine El-Abidine Ben Ali am 14. Januar 2011 von nur zwei autokratischen Herrschern regiert wurde.

Warum konnte hier eine Transition gelingen, die in anderen Ländern der Region kläglich scheiterte? Einige Voraussetzungen dafür bringt Tunesien von Haus aus mit: Das Land ist klein und religiös, sprachlich und ethnisch deutlich homogener als andere arabische Länder. Auch Stammesdenken spielt eine geringere Rolle als zum Beispiel im Nachbarland Libyen. Außerdem ist das Bildungsniveau relativ hoch, die Zivilgesellschaft stark, das Militär hingegen schwach. Darüber hinaus verfügt Tunesien kaum über Bodenschätze, um deren Förderung sich Konflikte hätten entwickeln können.

Hinzu kommt, was in Tunesien gemeinhin als »Konsenskultur« beschrieben wird. So wurden in den Anfangsjahren nach dem Umbruch verschiedene politische Kräfte in den demokratischen Prozess eingebunden. Mustafa Ben Jaafar, Präsident der Verfassungsversammlung (2011-2014) und ehemaliger Oppositionspolitiker unter Ben Ali, wurde damals von ehemaligen Weggefährten scharf kritisiert, weil er mit der muslimisch-konservativen Ennahdha-Partei zusammenarbeitete. »Wir waren nicht alle auf der gleichen Wellenlänge. Doch wenn wir nicht versucht hätten, uns an einen Tisch zu setzen und die Islamisten zu integrieren, hätten wir heute keine Verfassung«, betont er.

Doch was als Strategie für die ersten Jahre des Übergangs gedacht war, lähmt heute das Land: ein möglichst wenig parteipolitisch geprägtes Kabinett und ein zersplittertes Parlament, das stabile Koalitionen kaum zulässt. Das Ergebnis ist politische Instabilität statt dringend nötiger Reformen. Eine politische Vision für Tunesien ist dabei nicht in Sicht. Auch Außenseiter Kais Saied, vor einem Jahr mit über 70 Prozent der Stimmen zum neuen Präsidenten gewählt, gelang es nicht, der jungen, wirtschaftlich gebeutelten Bevölkerung eine Perspektive aufzuzeigen oder das Vertrauen in die Politik wiederherzustellen. Seit der Coronakrise mehren sich die Proteste gegen die wirtschaftliche Misere, viele junge Tunesierinnen und Tunesier sehen kaum Perspektiven. Tausende versuchen, nach Europa zu gelangen.

Dass die Krise sich bis heute nicht verschärft hat, sei auch Glück und Unvermögen geschuldet, sagt der Politikwissenschaftler Hamza Meddeb. »Wir haben es nicht mit einem Machtgleichgewicht, sondern einem Gleichgewicht der Machtlosigkeit zu tun«, erklärt er. »Keine politische Kraft ist heute stark genug, die Macht zu übernehmen.« Das habe das Land vor einem Rückfall in autoritäre Strukturen bewahrt.epd/nd

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