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Oury Jalloh »muss bereits tot oder bewusstlos gewesen sein«
Am 7. Januar 2005 verbrannte Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle. Alles deutet darauf hin, dass Beamte ihn getötet haben
Vor 20 Jahren wurde Oury Jalloh tot in einer Polizeizelle aufgefunden. Es hieß, er habe sich selbst mit einem Feuerzeug angezündet. Aus seinem Umfeld wurde diese Version von Anfang an angezweifelt.
Ich habe den Fall damals über meine Familie vermittelt bekommen. Der These von Polizei und Justiz, dass sich Oury selbst angezündet hat, war für uns unvorstellbar. Die Schwarze Community von Dessau und Geflüchteten-Organisationen wie »The Voice« oder »Karawane« haben gefragt, wie es sein kann, dass sich jemand, der auf einer feuerfesten Matratze an Hand- und Fußgelenken fixiert ist, mit einem Feuerzeug selbst anzündet. Außerdem konnten sich Ourys Freund*innen nicht vorstellen, dass er Selbstmord begangen hat.
Weil die Staatsanwaltschaft die Polizeiversion übernahm, hat die Unterstützergruppe verschiedene Gutachten in Auftrag gegeben. Diese Untersuchungen haben Ihren Verdacht bestätigt.
Ja, sie zeigen, dass Oury tot oder bewusstlos gewesen sein muss, als das Feuer ausbrach. Die Analyse der Röntgenaufnahmen zeigte, dass einige seiner Rippen und sein Nasenbein gebrochen waren. Wahrscheinlich starb Oury an einem Schädelbasisbruch. Auch was die Untersuchung der Atemwege anging, gab es in der staatlichen Version große Ungereimtheiten. In Ourys Urin konnte kaum Adrenalin nachgewiesen werden. Wenn er den Brand bewusst erlebt hätte, wären hingegen massiv Stresshormone ausgeschüttet worden. Außerdem wurde die Speiseröhre in den rechtsmedizinischen Berichten fälschlicherweise als Luftröhre ausgegeben, während die Proben der Luftröhre in den Asservaten nicht mehr aufzufinden waren.
Die in Thüringen aufgewachsene NN ist seit vielen Jahren in der schwarzen Community aktiv und engagiert sich in der Initiative zur Aufklärung des Todes von Oury Jalloh. Wegen zahlreicher Angriffe auf ihre Gruppe möchte sie nicht mit Namen und Foto in der Zeitung erscheinen. Ihre Identität ist der Redaktion jedoch bekannt.
Warum ist die Untersuchung der Luftröhre wichtig?
Die staatliche Version geht davon aus, dass sich Oury selbst angezündet hat und an einem Hitzeschock gestorben ist. Wäre das so, hätte er Rauch und Feuer eingeatmet. Dann müsste es jedoch zahlreiche Rußpartikel in den Atemwegen gegeben haben. Ist das nicht der Fall, muss er bereits tot oder bewusstlos gewesen sein, als der Brand ausbrach. Zusammen mit den unabhängig durchgeführten Brandversuchen zeigt das völlig klar, dass die staatliche Version nicht stimmen kann.
Die verschiedenen Gutachten wurden nicht von der deutschen Justiz in Auftrag gegeben. Sie mussten alles unabhängig finanzieren ...
Ja, diese Untersuchungen wurden in Absprache mit der Familie organisiert und durch Spenden ermöglicht. Übrigens wurde auch versucht, Gutachter in Deutschland zu beauftragen. Aber weil niemand hier das übernehmen wollte, haben das am Ende internationale Experten gemacht.
Empörend ist auch, dass Aktive der Oury-Jalloh-Initiative über Jahre hinweg kriminalisiert wurden.
Das ist ein eigenes Kapitel, über das mehr gesprochen werden müsste. Im Zusammenhang mit den Gedenkdemos gab es immer wieder Prozesse gegen Aktivist*innen und Freunde von Oury. Außerdem gab es Hausdurchsuchungen in dem Internetcafé, in dem sich die Schwarze Community von Dessau trifft. Diese Kriminalisierung war sehr gewaltsam und hat die Betroffenen viel Kraft gekostet. Sie sollte uns einschüchtern, uns zum Aufgeben bewegen.
Zuletzt haben allerdings auch große Medien Ihre Version übernommen.
Die Berichterstattung hat sich gewandelt. Ab 2013 wurden verschiedene Gutachten zum Brandhergang, zu einer neuen Autopsie und zum Feuerzeug veröffentlicht. Wir haben Belege dafür geliefert, dass in der Zelle Nummer 5 ein Brandbeschleuniger zum Einsatz gekommen sein muss. Es ist klar, dass ein Mensch, der an vier Punkten fixiert ist, sich nicht allein mit einem Feuerzeug in Brand setzen kann. Außerdem wurde das Feuerzeug erst nachträglich auf die Asservatenliste gesetzt und weist tatortfremde Spuren auf. Diese Widersprüche sind dann auch Journalist*innen aufgefallen. Allerdings halten viele Medien bis heute an der Lüge der Selbstanzündung fest. Vor allem für die Familie von Oury ist das sehr schmerzhaft.
Bei Recherchen kam auch heraus, dass es auf der Polizeiwache Dessau-Roßlau zuvor weitere Todesfälle gegeben hatte.
Wir verwenden deshalb auch den Begriff »Oury-Jalloh-Komplex«. Hans-Jürgen Rose und Mario Bichtemann starben 1997 und 2002 an schweren Misshandlungen, nachdem sie verhaftet und auf dieselbe Dessauer Wache gebracht worden waren. Teilweise waren dabei dieselben Beamten im Einsatz. Mario Bichtemann war außerdem wie Oury in Zelle Nummer 5 gefangen. Wir haben es also nicht nur mit einem strukturellen Polizei- und Justizproblem, sondern auch mit einem konkreten Personenkreis zu tun. Auf dieser Dessauer Wache gibt es, das ist unsere Interpretation, eine Tradition der Folter. Zu erwähnen ist in dem Zusammenhang auch der Fall der Chinesin Li Yangjie, die 2016 vom Sohn einer Dessauer Polizistin brutal ermordet wurde. Der Stiefvater des Täters war Leiter desselben Polizeireviers Dessau-Roßlau. Mutter und Stiefvater des Täters wird vorgeworfen, die Aufklärung dieses rassistischen Mordes behindert zu haben.
Manche Gruppen fordern mehr Bildungsprogramme für Polizist*innen. Andere halten die Polizeistrukturen selbst für das Problem. Wie könnte eine weniger gewalttätige Zukunft aussehen?
Dazu gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen unter uns. Aber Ourys Fall zeigt sehr klar, dass wir kein Vertrauen in den Rechtsstaat haben sollten. Mit diesem Polizei- und Justizsystem wird es kein Ende derartiger Gewalttaten geben. Wir haben bei jedem neuen Gutachten erlebt, wie sehr der Staat gewillt ist, Polizeiverbrechen zu vertuschen. Aber wir haben auch gelernt, dass wir eigene unabhängige Strukturen aufbauen können, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Die extreme Rechte ist in Sachsen-Anhalt sehr stark, nicht wenige Polizisten sympathisieren mit der AfD. Wie ist es, in Dessau zu demonstrieren? Begleitet einen da nicht immer auch die Angst?
Der 7. Januar ist als Gedenktag seit 20 Jahren ein wichtiger Anlass für die Schwarze Community, um zusammenzukommen. Unterstützer*innen aus ganz Deutschland reisen an. Und es gibt vereinzelt Jüngere aus der Stadt, die sich der Gedenkdemonstration anschließen. Darin liegt eine enorme Kraft. Aber natürlich ist uns auch immer mulmig zumute: Nazis haben immer wieder versucht, die Demo anzugreifen. Und die Polizei hat nach Auflösung der Kundgebung immer wieder Teilnehmende verhaftet. Trotzdem gedenken wir in Dessau jedes Jahr der Opfer staatlicher Gewalt in Deutschland. Wir sind uns einig: Oury Jalloh – das war Mord.
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