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Die dritte Schuld
In der Nachkriegszeit waren einzelne Richter am Bundesarbeitsgericht vorbelastet. Das anzuerkennen, fällt der Institution schwer
Als Martin Borowsky über die Dienstpistole spricht, da wird es ihm zu viel. Man kann das spüren, ohne selbst im gleichen Raum zu sein wie er. Nicht nur, dass Borowsky seine Lesebrille fahrig von einer Hand in die andere nimmt und damit herumfuchtelt. Vor allem beendet er seine Sätze nicht. Sätze, bei denen es so spannend wäre zu erfahren, wie sie weitergehen sollten. Aber die Sache mit der Dienstpistole wühlt den 54-Jährigen so sehr auf, dass es ihm nicht gelingen will, sie abzuschließen. «Das fand ich also …», sagt er. Und: «Es gibt auch immer Momente in solchen Forschungen …» Danach: Es gab auch Momente, wo ich wirklich aufhören wollte …«
Schließlich fängt sich Borowsky wieder. Fast so, als hätte es diesen Exkurs nicht gegeben, spricht er weiter über den Mann mit der Dienstpistole: Walter Schilgen, im Jahr 1900 geboren, 1991 gestorben, einst Richter. Genau wie Borowsky.
In seinen Nachforschungen zu den Biografien von insgesamt 25 der ersten Richter am Bundesarbeitsgericht ist der Rechtsgelehrte Martin Borowsky nicht nur auf 13 Juristen gestoßen, die sich nach seiner Einschätzung durch ihre Handlungen im Nationalsozialismus für ihre Tätigkeit disqualifiziert hatten. Zwölf von ihnen seien für ihre spätere Arbeit an diesem deutschen Gericht durchaus qualifiziert gewesen, obwohl auch sie in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur gelebt hatten, wie etwa der zweite Präsident des Bundesarbeitsgerichtes, Gerhard Müller.
Menschen wie er hätten die Handlungsspielräume, die es auch im NS-Staat gegeben habe, genutzt und seien nicht an Verbrechen beteiligt gewesen, sagt Borowsky. Unter den Richtern der Frühphase des Gerichts finde man die gesamte Brandbreite von Verhaltensmustern, die sich in einer Diktatur immer wieder zeigten: Täter, Mitläufer, Angepasste, Widerständige. sha
Dass an diesem Abend nur wenige Menschen auf der Veranstaltung in den Räumlichkeiten des Erinnerungsortes Topf & Söhne in Erfurt physisch anwesend sind, hat natürlich mit Corona zu tun. Das, was Borowsky und auch einige andere an diesem Abend zu sagen haben, wird über das Internet live übertragen, was die Nachfragemöglichkeiten deutlich einschränkt. So toll das Internet und Online-Veranstaltungen auch sind, so wenig können sie die Veranstaltungen mit Publikum ersetzen, bei denen eigentlich immer auch persönliche und unmittelbare Rückfragen möglich sind.
Die Dienstpistole, Schilgen und Borowskys Unbehagen damit - das bleibt deshalb für diesen Abend ein ungeklärter Zusammenhang. Einer, der sich erst ein paar Tage später auflösen wird.
Gekommen ist der promovierte Jurist Borowsky - der am Landgericht Erfurt Recht spricht -, um über das Wirken anderer Juristen zu reden. Und über Schuld. Über deren Schuld. Darüber hinaus - so wird sich im Laufe des Abends zeigen - sieht Borowsky noch eine weitere Schuld, die manche von denen mutmaßlich auf sich geladen haben, die die Geschicke des Bundesarbeitsgerichts in den vergangenen Jahrzehnten bestimmt haben. Denn um dieses Gericht, das seinen Sitz seit 1999 in Erfurt hat, und seine ersten Richter geht es Borowsky und den anderen im analogen und virtuellen Raum. Darum, wie und warum diese Juristen nach Ende des Zweiten Weltkriegs ans Bundesarbeitsgericht gekommen sind, was sie im Nationalsozialismus getan hatten und wie das nach dem Krieg thematisiert worden war. Borowsky werde, so steht es in der Einladung zu diesem Abend, einen Werkstattbericht zu seinen inzwischen etwa zwei Jahre dauernden Forschungen abgeben.
Der Jurist hat sich die Biografien von 25 der ersten Richter des Bundesarbeitsgerichts angeschaut, mithilfe von Akten und Archiven, ganz so, wie auch Historiker in solchen Fällen arbeiten. Er ist an manche der Orte gefahren, an denen diese Juristen ihrem Beruf nachgegangen waren, ehe sie an eines der obersten Gerichte der Bundesrepublik berufen worden waren.
Im Fall von Schilgen war Borowsky nach Polen gereist. Nach Katowice, Bytom und Wroclaw. In eine Region, sagt Borowsky, in der Schilgen während des Zweiten Weltkrieges als Richter eines politischen Senats des damaligen Oberlandesgerichts Kattowitz Mitglieder des polnischen Widerstandes zu Zuchthaus- und Todesstrafen verurteilt habe. Dort, im von Nazi-Deutschland besetzten Schlesien, sagt Borowsky, sei Schilgen mit einer Dienstpistole herumgelaufen. Die habe er wegen seiner - im Sprachgebrauch dieser Zeit - »gefährlichen Tätigkeit« bekommen.
In den Minuten, in denen Borowsky über Schilgen spricht, sind die zentralen Erkenntnisse seiner Forschungen zu den von ihm untersuchten Richtern bereits klar: Von diesen 25 frühen Richtern des Bundesarbeitsgerichtes waren 13 so sehr durch ihre Verstrickungen mit dem NS-Staat belastet, dass sie sich für ihre Tätigkeit an einem Bundesgericht nach 1945 eigentlich »disqualifiziert« hatten, wie Borowsky das nennt. Sie seien teilweise nicht nur Mitglieder der NSDAP oder der SA gewesen. Was für sich genommen, argumentiert Borowsky, nach seinem »relativ milden Maßstab« noch nicht ausreiche, um diese Männer als ungeeignet für ihre spätere Tätigkeit zu bezeichnen.
Diese 13 Männer seien vielmehr unmittelbar daran beteiligt gewesen, im NS-Staat unter dem Deckmantel des Rechts Unrecht zu verüben, erklärt Borowsky. Immer wieder macht er deutlich, dass diese Männer unter anderem Todesurteile gegen Menschen verhängt hatten, die nicht in das Weltbild der Nationalsozialisten passten. Die Zeithistorikerin Christiane Kuller, die an der Universität Erfurt lehrt und der Diskussion über das Internet zugeschaltet ist, sagt, Männer wie diese seien Teil der »Funktionselite« des NS-Staates gewesen und hätten ihm den Anschein von Legalität gegeben. Sie seien ganz zentral für das Wirken dieses Regimes gewesen.
Eine wirkliche Überraschung ist dieser Befund freilich nicht; jedenfalls nicht aus einer rein historischen Perspektive heraus betrachtet. Wissenschaftliche Arbeiten, die zeigen, dass die »Stunde null« ein Mythos war und dass ungezählte Nazis und NS-Täter auf allen Ebenen der Gesellschaft nach dem Krieg vor allem im Westen Deutschlands wieder Karriere machten, füllen inzwischen viele Regalmeter in Forschungsbibliotheken. Sie stiegen in Bundes- und Landesministerien wieder ein - und auf: in der Polizei, in den Streitkräften, in privaten und auch in volkseigenen Unternehmen.
Borowsky nennt es die »erste und die zweite Schuld«, die diese Menschen auf sich geladen haben: Erstens die unmittelbare Schuld für die Verbrechen, die sie während des Nationalsozialismus begangenen hatten. Zweitens die Schuld, »dass Menschen, die derartige Schuld auf sich geladen hatten, wieder Karriere machen konnten, nach dem Krieg«.
Allerdings dominiert nach dem Werkstattbericht Borowskys eine weitere, »dritte Schuld« die Diskussion um die Vergangenheit der frühen Richter des Bundesarbeitsgerichts. Jene Schuld, bei der es durchaus überraschend ist, wie sehr sich so manche am Bundesarbeitsgericht damit mutmaßlich beladen haben. Eine, die umso mehr heraussticht, weil es inzwischen kein Geheimnis mehr ist, wie groß die personellen Kontinuitäten zwischen dem Nationalsozialismus und der deutschen Nachkriegszeit waren.
Abstrakt formuliert geht es bei dieser dritten Schuld um die Verfehlungen der heute Lebenden, die offenbar nicht bereit sind, »die erste und die zweite Schuld aufzuarbeiten«, wie Borowsky es nennt. Konkret geht es beispielsweise um Fotos aller ehemaligen Richter des Bundesarbeitsgerichts, die im Konferenzbereich des Gebäudes hängen. Darunter, und bis heute unkommentiert, sind entsprechend neben einem Foto von Schilgen auch die Bildnisse von all den anderen, die nach den Recherchen Borowskys an nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt waren.
Die Sprecherin des Gerichts, Stephanie Rachor, verteidigt nicht nur die Existenz dieser Fotos, sondern auch die Art ihrer Präsentation. »Es handelt sich um eine bildliche Dokumentation sämtlicher Richterinnen und Richter, die seit 1954 an das Gericht berufen wurden, weshalb neben den Namen auch Beginn und Ende der richterlichen Tätigkeit sowie die jeweilige Amtsbezeichnung vermerkt sind«, sagt sie. »Die Fotografien sind Zeitdokumente und nicht Gegenstand einer wie auch immer gearteten ›Verehrung‹.«
Für Borowsky und die wenigen anderen, die an diesem Abend mit ihm im Raum sind, stellen diese Fotos aber eher eine Art »Ahnengalerie« dar, deren Existenz aus dieser Sichtweise heraus eine große Naivität des Bundesarbeitsgerichts im Umgang mit der eigenen Geschichte offenbart. So sagt der MDR-Journalist Axel Hemmerling, der einen Film über die Forschungsergebnisse von Borowsky produziert hat, bei seinen Dreharbeiten im Gericht habe es einen bestenfalls halbherzigen Versuch gegeben, ihm und seinem Team die Bilder von Schilgen und anderen Belasteten nicht zu zeigen. »Die haben auch nichts versteckt.« Vielmehr fehle bei den Verantwortlichen des Gerichts das »Bewusstsein« dafür, mit der unkommentierten Präsentation der Fotos geschichtsvergessen zu handeln.
Der Vorsitzende der jüdischen Landesgemeinde, Reinhard Schramm, fordert während der Diskussion, die Fotos der 13 von Borowsky als erheblich belastet identifizierten Richter sollten nicht ab- oder zugehängt werden. Vielmehr sollte bei jedem von ihnen ein Hinweis angebracht werden, dass sie in NS-Verbrechen verstrickt gewesen seien - und dass sie »vom deutschen Staat trotzdem berufen wurden«.
Borowsky selbst muss zu diesen und ähnlichen Forderungen an diesem Abend gar nicht mehr viel sagen. Er hat eine Debatte angestoßen, die längst noch nicht zu Ende ist und die - davon darf man ausgehen - zumindest mittelfristig den Umgang des Bundesarbeitsgerichts mit seiner frühen Vergangenheit verändern wird. Es sei nämlich geplant, sagt Rachor, eine Kommission erfahrener Historiker und Rechtshistoriker mit der Aufgabe zu betrauen, um die ersten Jahre des Bundesarbeitsgerichts aufzuarbeiten. Diese - und das könnte man als Seitenhieb auf Borowsky verstehen - solle und könne sich nicht auf die Nachzeichnung der richterlichen Biografien beschränken. »Vielmehr bedarf es zusätzlich einer fundierten rechtshistorischen Analyse dahingehend, ob und gegebenenfalls inwiefern NS-Belastungen und eine darin zum Ausdruck kommende Geisteshaltung die Rechtsprechung des erst 1954 gegründeten und nicht in der Tradition des Reichsgerichts stehenden Bundesarbeitsgerichts beeinflusst haben«, erklärte das Bundesarbeitsgericht unlängst. Wann der entsprechende Forschungsauftrag vergeben werden soll, lässt Rachor allerdings offen.
So also geht der Abend zu Ende, der einmal mehr unterstreicht, dass die heute Lebenden keine Verantwortung für das Handeln früherer Generationen tragen. Sie stehen aber in der Verantwortung, sich zu deren Handeln zu verhalten und angemessen daran zu erinnern.
Ein paar Tage später erklärt Borowsky schließlich, warum es ihm so viel Unbehagen bereitet, dass Schilgen eine Dienstwaffe trug. Da sei einerseits sein Entsetzen darüber, dass ausgerechnet Schilgen sich so sehr dem NS-Regime angebiedert habe, sagt Borowsky am Telefon. Wieder beendet er seine Sätze nicht. »Wie sich Menschen in einer Diktatur verbiegen, verbeugen, dienstbar machen …« Dabei habe Schilgen selbst mindestens eine jüdische Verwandte gehabt.
Zudem, sagt Borowsky, passe es in seiner Vorstellungswelt überhaupt nicht zueinander, dass ein Richter eine Waffe trage, wahrscheinlich sogar in einem Gerichtsgebäude. »Das ist völlig konträr zu dem, wie sich ein Richter sich verhalten soll.«
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