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Der Mann mit der Kamera
Dem großen Kinoerzähler und Künstler David Lynch zum 75. Geburtstag
Der Himmel ist so blau, der Gartenzaun so weiß und die Rosen so rot, dass sich die Stars and Stripes gewissermaßen wie von allein auf der Netzhaut einstellen. Und während die 50er-Jahre-Schnulze »Blue Velvet« läuft, sehen wir dieses Panorama der US-amerikanischen Vorstadt, in der das rituelle Sprengen des perfekt gestutzten Rasens zum Ausweis unzweifelhafter staatsbürgerlicher Gesinnung dient. Doch das Ventil des sich in den Blumen verfangenen Gartenschlauchs scheint nicht mehr dicht und dann haut es schon den Schlauchhalter auf die grüne Matte - und man ahnt, dass der Fluss der Welt sich wohl nicht immer so perfekt kanalisiert ergießt, wie es die optische Idylle suggeriert. Noch dazu sich die Kamera nun in das stürzt, was der Rasen verbirgt, ein dunkles Gewusel aus Insekten und Käfern.
Die Eröffnungsszene von David Lynchs »Blue Velvet« (1986) gehört zu den berühmtesten der Filmgeschichte, was nicht bedeutet, dass dieses Meisterwerk nicht einige weitere ikonische Szenen bereithielte. Kurz darauf sieht man im deutlich weniger domestizierten Oberflächenbewuchs ein von Ameisen bekrabbeltes Ohr, zweifelsfrei menschlicher Herkunft. Und es dürfte kein Zufall sein, dass Quentin Tarantino nur wenig später in »Reservoir Dogs« (1992) einen seiner Protagonisten beim genüsslichen Ohrenabsäbeln zeigt. Mit Filmen wie »Eraserhead« (1977), »Der Elefantenmensch« (1980) und »Wild At Heart« (1990) hat Lynch eine Generation von Filmemachern geprägt, die sich eher als unabhängige Köpfe an den Rändern von Hollywood verstanden - darunter auch Tarantino. David Foster Wallace brachte das einmal auf den Punkt: »Quentin Tarantino interessiert sich dafür zu sehen, wie jemandem das Ohr abgeschnitten wird; David Lynch interessiert sich für das Ohr.«
Lynch wird an diesem Mittwoch 75 Jahre alt. Sein letzter Kinofilm, die bizarre Hollywood-Groteske »Inland Empire« (2006), liegt nun schon einige Zeit zurück - damals zog er zu Werbezwecken mit einer Kuh über den Sunset Boulevard. In den letzten Jahren trat er mehr als Künstler und Musiker in Erscheinung - mit »Crazy Clown Time« und »The Big Dream« liegen inzwischen zwei Platten vor, für die er allein verantwortlich zeichnet. Seine Bilder, Experimentalfilme und Installationen werden weltweit ausgestellt. Es verwundert nicht, dass der am 21. Januar 1946 in Montana geborene Lynch sich als Universalkünstler begreift. Ohne das zu verklären, kann man aber doch feststellen, dass es ihm immer um mehr ging, als nur erfolgreiche Filme zu machen. Ein Indiz dafür wäre allein der grandiose Flop von »Dune - Der Wüstenplanet« (1984), als genau das versucht wurde (Lynchs missglückter Versuch ist nebenher noch ein weiterer Grund, die für 2021 angekündigte Verfilmung des Stoffs durch Dennis Villeneuve mit gebotener Spannung zu erwarten).
Anlässlich des 75. Geburtstages des Künstlers mit der idiomatischen Sprechweise (kaum jemand bietet sich für die Kunst der Imitation so an wie Lynch) stellt sich die Frage, was eigentlich das Außerordentliche und Einzigartige seines filmischen Werks ist. Denn auch wenn sein Einfluss unbestritten ist, passt Lynch kaum in das heutige Kino. Nach dessen moralisierenden Maßstäben würden wohl mangelnde Diversität oder die Colorblindness des Casts bemängelt werden, auch das hashtagkonform Erbauliche dürfte vermisst werden. Doch Lynch setzte immer auf einer anderen Ebene an: Identitätsverlust statt Identität. Und das scheint dieser Tage tatsächlich weniger gefragt zu sein.
Schon die Einschaltzahlen der dritten Staffel von »Twin Peaks« (1990/91, 2017) lassen allerdings vermuten, dass die Fortsetzung nach über 25 Jahren nur für Nostalgiker und Freaks noch von Interesse war. Ehrlicherweise muss man hinzufügen, dass die Zuschauerzahlen bereits bei der zweiten Staffel einbrachen, als sich zeigte, dass David Lynch und Mark Frost aus dem Format des Whodunit ausbrachen. Sie wollten keineswegs nur den Mörder der abgründigen Highschool-Schönheit Laura Palmer - und damit einige gut verborgene Hässlichkeiten einer Kleinstadt in Washington State nahe der kanadischen Grenze - mit dem abschließenden Sieg der als Gerechtigkeit auftretenden Staatsmacht in Person von FBI-Special Agent Dale Cooper präsentieren. Stattdessen hatten sie noch ein paar ins Mystische abgleitende Ungeheuerlichkeiten mehr zu bieten.
»Twin Peaks« jedenfalls hat das ins Fernsehen gebracht, was heute unter dem Stichwort des horizontalen Erzählens die Serien-Aficionados aller Länder begeistert, also eine über mehrere Folgen oder gar Staffel reichende Handlung anstelle der leichter konsumierbaren in sich geschlossenen Häppchen (wobei sich die Frage der Konsumierbarkeit mit dem Wechsel vom klassischen Fernsehen hin zum Streaming nochmals verändert hat). Jedenfalls war »Twin Peaks« im Feld der Serien unter all den Short Stories der erste Fortsetzungsroman, perfekt zwischen Kitsch und Horror changierend, wozu freilich auch die Musik von Angelo Badalamenti und Julee Cruise beitrug, die auch bei vielen weiteren Filmen von Lynch mitarbeiteten. Überhaupt hat Lynch in all den Jahren eine erstaunliche Treue nicht nur zu Mitarbeitern, sondern auch zu Darstellern wie beispielsweise Kyle MacLachlan und Laura Dern gezeigt, was in der Folge zu Tausenden Bezügen der Filme untereinander führte.
Lynchs Filme, um die Frage wieder aufzugreifen, zeigen etwas zutiefst Verstörendes. Eine Welt aus den Fugen, nicht nur eine Wirklichkeit hinter den Phantasmen, sondern eine in sich phantasmatische Wirklichkeit. Unheimlich wurde das genannt oder auch pervers - und beides ist zweifelsohne richtig. So verhält sich Lynch mit der Kamera gewissermaßen fetischistisch gegenüber der Objektwelt. Ein Telefon, eine Hausnummer, ein Schlüssel, eine Notiz, all das kann zum Gegenstand einer Obsession werden, Teil einer Katastrophe sein oder eine abseitige Bedeutung tragen. Aber Lynch ist nicht nur für Freunde verrätselter Handlungsstränge ein Vergnügen. Es ist, als ob seine Filme Psychologisches erfahrbar machen statt nur zu zeigen. Optisch geschieht, was mit die Psychoanalyse beispielsweise mit Verschiebung, Abwehr, Verdichtung, Spaltung benennt. Die Auflösung von linearer Handlung in räumliche Konstellationen folgt der Logik von Traum und Trauma.
Viele von Lynchs Filmen haben die Struktur eines Möbiusbands, eines in sich verdrehten und verkehrten Geschehens, wo unklar bleibt, was Anfang und Ende, was Vorder- und Rückseite ist. Der Sinn dessen ist weit mehr als nur eine Übung in möglichst ausgefeilter ästhetischer Verwirrung. Gezeigt wird nämlich, dass das Fantasieren, die Fiktion, keineswegs bloß die Realität verdeckt, sondern genau dort entsteht, wo diese selbst lückenhaft ist. Es gibt immer etwas Unzugängliches. So sind dann auch seine Figuren keine ironischen, allwissenden Charaktere, die mit permanenten Metakommentaren auftrumpfen, sondern meist schrullige, einsame, in enigmatischen Dialogen verlorene und sich selbst rätselhafte Wesen auf Glückssuche. Was keineswegs mit der Suche nach dem Guten zusammenhängt. Das Böse ist bei Lynch überall - als begehrenswerte Verlockung und ernsthafte Bedrohung zugleich.
Dass Lynch es mit seiner Begeisterung fürs Übersinnliche persönlich allzu ernst nimmt, zeigt sein Engagement für die »Transzendentale Meditation«, das der Dokumentarfilm »David Wants To Fly« (2010) charmant-spöttisch zur Schau stellt. In Berlin dürfte man in diesem Zusammenhang noch die angekündigte Gründung der Universität der unbesiegbaren Deutschlands auf dem Teufelsberg in Erinnerung haben. Doch scheint es, als habe so manche Privatmacke im Künstlerischen doch eher erfreulichere Auswirkungen. Für »Lost Highway« (1997) - das in Sachen verstörender Rätselhaftigkeit »Mullholland Drive« (2001) nicht nachsteht - gab Foster Wallace in seiner Essayreportage über den Dreh als Zahl potenzieller Deutungsansätze immerhin ungefähr 37 an. Der Schriftsteller lieferte zugleich eine bis heute überzeugende Deutung der Wortschöpfung lynchesk - als Annäherung auf die Frage, warum Lynchs Fantasiewelten mit unserer Realität auf unheimliche Weise mehr zu tun haben als man denkt. Unzeitgemäß wirkt das freilich, weil das Subjekt heute über Identität, nicht mehr über Psyche erklärt wird.
Lynch, der in »Twin Peaks« als schwerhöriger FBI-Chef Gordon Cole selbst auftritt, hat sich in der Tradition von Alfred Hitchcock und Luis Buñuel der Erforschung des Subjekts mit den erzählerischen Mitteln des Kinos verschrieben. Selbst ein auf den ersten Blick untypischer Film wie »The Straight Story« (1999), der einen Rasenmäher-Roadtrip durch die USA zeigt, folgt unbeirrt dem eigentümlichen, immer etwas wahnhaften Beharrungsvermögen des Einzelnen. Es ist zugleich auch eine stilisierte autobiografische Aussage, wie man sie auch in Lynchs vor abwegigen Weisheiten nur so strotzendem Buch »Catching The Big Fish« findet: »Ich bin nur ein Typ aus Missoula, Montana, der sein Ding macht und seinen Weg geht wie jeder andere auch.« Darauf - wie im Double R Diner von Twin Peaks üblich - eine Tasse damn good coffee mit cherry pie.
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