Ein säkularer Prophet

Michel Houellebecqs Essays in »Ein bisschen schlechter. Neue Interventionen« zeigen den unheilbaren Melancholiker so aggressiv wie nachdenklich

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Natürlich, es kann nur schlechter werden. Aber das immerhin in einem so rasanten Stil beschrieben, wie man ihn nur von Michel Houellebecq kennt. »Interventionen«, also Einmischungen, sind alle seine Texte, die kleinen für die Zeitung, die großen für die Bestsellerliste. 1997 hatte er in »Lebendig bleiben« die Koordinaten seines Schreibens benannt, die sich bis heute kaum verändert haben: Leid und Verachtung, was bei ihm auch Mitleid und Selbstverachtung bedeutet.

Da fußt einer nicht nur auf der französischen, auch der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, der Romantik, besonders der Philosophie Arthur Schopenhauers, dessen Pessimismus er teilt. Das Leben, heißt es bei Houellebecq, sei eine Abfolge von »nicht störungsfreien Tests«. Die ersten besteht man, an den letzten geht man kaputt: »Im Leben scheitern, aber knapp scheitern.« Darin, dass es knapp war, besteht die besondere Tragik des modernen Menschen.

Dieser Autor erlaubt sich alles, bloß die Langeweile nicht. Ein Gedanke, der sich nicht als geschliffenes Paradox auf dem Papier wiederfindet, lohnt nicht aufgeschrieben zu werden. Aber davon ist Houellebecq auch in seinem neuesten Essayband weit entfernt: Es ist kein Alterswerk mit Mitte sechzig, das war auch nicht zu erwarten nach Romanen wie »Elementarteilchen«, »Karte und Gebiet«, »Möglichkeit einer Insel« und »Unterwerfung«. Was ist es dann? Die Lust an der Provokation? Auch, aber wohl nicht primär.

Es ist eine innere Unruhe (fast möchte man von einem metaphysischen Zittern sprechen), einem Ungenügen an gängigen Erklärungen, die ihm alle zu einseitig der Tageslogik unterworfen scheinen. Zu sehr Magd der Politik, wie im Mittelalter alles Denken Magd der Theologie sein sollte! Von solcher Instrumentalisierung muss sich der Intellektuelle befreien. Es darf für das Denken keine Tabus geben - und die Exempel darauf finden sich nun in »Ein bisschen schlechter« auf eindrucksvolle Weise versammelt.

Gleich der erste Satz seines ersten Textes »Der Konservatismus, Quelle des Fortschritts« hat es in sich: »Das Paradox ist nur allzu offensichtlich: Der Konservatismus kann ebenso eine Quelle des Fortschritts sein, wie die Faulheit die Mutter der Effizienz ist.« Eine Schule der Dialektik sind die kommenden 207 Seiten auf jeden Fall. Zugleich ein Blick in die »Welt als Supermarkt«, das war der Titel des ersten Teils seiner »Interventionen«.

Houellebecq kennt die Phobien der Massenkultur, etwa jene, zwanghaft jung bleiben zu wollen und dabei dauernd ans Alter zu denken. Seine Beweisführung für derartige Thesen ist so umstandslos direkt, dass nur jemand, der sich um die Meinungen anderer so gar nicht schert, auf sie verfallen kann. Aller Konservatismus, so heißt es bei ihm, wurzele in intellektueller Faulheit, aber diese Faulheit sei nun mal »eine mächtige Kraft«. So wie Gontscharows Oblomow ein der Welt seine Kraft vorenthaltener Sofabewohner ist, der lieber liegt als sitzt oder gar geht. Das ist fast subversiv, aber eben nur fast.

Vor allem sei der Konservative - im Unterschied zum Reaktionär oder Revolutionär - ein »sehr ungefährliches Individuum«. Er folgt jener Maxime, die der Autor mit unverhohlenem Triumph zitiert: »Es gibt kein politisches Problem, das sich nicht durch Untätigkeit lösen ließe.« Denn wer nicht will, dass sich irgendetwas ändert, der schaut den Veränderungen, die sich um ihn herum dennoch vollziehen, eher leidenschaftslos zu. Doch immerhin keine Revolution, immerhin kein Putsch! Also alles nur halb so schlimm wie befürchtet.

Houellebecq, der Pamphletist, erweist sich hier wiederum als geschliffener Aphoristiker, der noch in der Zustimmung, die er erheischt, zugleich den Widerstand beim Leser hervorkitzelt. Gleich vier Gespräche enthält der Band. Diese Form hat Houellebecq seit dem Erfolg seines Briefdisputs mit dem Philosophen Bernard-Henri Lévy, der dann als Buch unter dem Titel »Volksfeinde« erschien, weiter kultiviert. Eigentlich unwillig, etwas über sein Privatleben preiszugeben, kann er solcherart Selbstenthüllungen in homöopathischen Dosen nun selbst bestimmen. Etwa um mitzuteilen, dass seine - ihm wenig nahen - Eltern und sein ihm dafür um so näher stehender Hund kurz hintereinander gestorben seien.

So etwas verändert das Weltgefühl. Ebenso wie es der Anschlag auf die Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« 2015 tat, bei dem auch sein Freund Bernard Maris getötet wurde. Dieser hatte kurz zuvor das wichtige Buch geschrieben: »Michel Houellebecq, Ökonom. Eine Poetik am Ende des Kapitalismus«. Das Leitmotiv hier: »Unter der scheinbaren ›Sanftheit‹ des Marktes schwelt die Gewalt.«

Im Gespräch mit Frédéric Beigbeder, geführt 2014 kurz vor Erscheinen von »Unterwerfung«, erfahren wir, dass Houellebecq vor seiner Abreise zur Berlinale nach dem gemeinsamen Essen mit dem Interviewer sein Gebiss im Restaurant vergaß - und seinen Berlin-Besuch folglich ohne dieses absolvierte. Dass er dann dort den Eindruck eines Clochards vermittelte, war ihm herzlich egal - es passte zum Image dessen, der am Rande der Gesellschaft (und auch des Grabes) von Geistesblitzen heimgesucht wird. »Der Alkohol ist kein Problem, außer bei den Taxifahrern; jeder zweite sagt zu mir: ›Oh nein, Sie nicht! Sie kotzen mir doch ins Auto!‹« Inzwischen ist Houellebecq neu verheiratet und hat sich das seriöse Image eines Anzug und Krawatte tragenden Erfolgsautors zugelegt. Unterlaufe alle an dich herangetragenen Erwartungen!

Die Zeit, in der er »Unterwerfung« schrieb, war auch die Zeit, als er Theodor Fontane entdeckte und begeistert von ihm war. Dieser Roman spielte mit dem Sujet einer bis zur Regierungsübernahme vorangetriebenen Islamisierung Frankreichs. Mittendrin ein Intellektueller, der wie die meisten Intellektuellen ein Opportunist ist, ein Spezialist für Joris-Karl Huysmans, den Zola-Antipoden, dessen »Schule der Satanisten« das ideale Werk in Zeiten von Verschwörungstheorien scheint. Darin geht es um einen Autor, der über einen »Satanisten«, Gilles des Rais, der aus allen Rastern der Zeit gefallen ist, ein Buch schreiben will - eine Situation wie die Houellebecqs. Dieser schreibt anhand von François, dem Literaturprofessor in Paris aus »Unterwerfung«, der Huysmans’ Welt aus »seltsamen Worten« liebt, eine Sittengeschichte der Gegenwart. Dabei kommt er nicht umhin zu konstatieren, dass dies eine Endzeit ist.

Die Islamismus-Kritik Houellebecqs, die sich auch in »Unterwerfung« zeigt, korrespondiert dort mit der Kritik am Katholizismus, der den Laizismus in Frankreich ebenso bekämpfe wie der Präsidentschaftskandidat der Bruderschaft der Muslime. Aber, als ob man es nicht hätte wissen können: Houellebecqs Lieblingsautor Huysmans konvertierte gegen Ende seines Lebens zum Katholizismus, und was man in »Ein bisschen schlechter« über den Katholizismus liest, klingt fast so, als ob Houellebecq kurz vor der Konversion stünde. Oder ist das wieder nur ein neues Mittel, uns zu verblüffen? Der Satz jedenfalls klingt nach: »Ich betrachte mich als säkularen Propheten.«

Wie immer spricht Houellebecq bevorzugt über seine Lieblingsautoren von Lamartine bis zu Chateaubriand, Schiller und Chesterton. Letzterer brachte es fertig, zugleich ein Loblied auf Orthodoxie und Ketzerei zu singen. Houellebecq spricht auch über so vergängliche Dinge wie Donald Trump als US-Präsidenten, den er auf eine abgründige Weise lobt, und das Ende des Neoliberalismus: »Auch unsere Gesellschaft brüstet sich gern mit ihrer Effizienz; sie wird wie Sparta verschwinden, und sie läuft durchaus Gefahr, nichts als eine ungewisse Erinnerung an eine Schande, der Schatten eines Abscheus zu sein.«

Das letzte Wort aber hat auch bei Houellebecq das Coronavirus: »Wir werden nach der Ausgangssperre nicht in einer neuen Welt aufwachen; es wird dieselbe sein, nur ein bisschen schlechter.« Ein starker, geradezu widerspenstiger Text, der sich nicht zähmen lassen will!

Michel Houellebecq: Ein bisschen schlechter. Neue Interventionen. Essays. Übers. v. Stephan Kleiner. Dumont, 207 S., geb., 23 €.

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