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Der Schöne-Lieder-Macher
Der Mann, der nie die Welt verändern wollte, wird 80: Neil Diamond.
Kein gutes Jahr: 1971. Der Vietnamkrieg geht weiter, die Hippies werden niedergeknüppelt, und die Gettos brennen immer noch. Entsprechend politisiert und emotional aufgewühlt präsentieren sich viele Musiker: Marvin Gaye will sich nicht länger mit der Schlechtigkeit der Gegenwart abfinden (»What’s Going On«), Sly Stone träumt von Aufständen (»There’s A Riot Goin’ On«) und John Lennon von einer anderen, besseren Welt (»Imagine«), Led Zeppelin suchen gar den Aufgang zum Himmel (»Stairway to Heaven«). Und Neil Diamond? Der schreibt ein Lied über knuspriges Müsli (»Crunchy Granola Suite«).
So schafft man es natürlich nicht in den Rock-Olymp. Man darf auch nicht erwarten, dass jene, die von Berufs wegen neue Singles und LPs besprechen, einem wohlgesonnen sind. In den 70er Jahren reagieren Rezensenten auf Neil Diamonds Platten häufig desinteressiert oder ablehnend. Selbst »Hot August Night« (1972), ein Meilenstein unter den Livealben, wird seinerzeit von Robert Christgau, dem selbst ernannten »Dekan der amerikanischen Rockkritiker«, abgewatscht: »Der große Entertainer strebt nach schlechter Kunst und erreicht sie nicht mal. Für seine Country-Parodien würde ein ärmerer, betrunkenerer Mann gelyncht.« Eine Plattenkritik als Hinrichtung.
Es fällt schwer, solche Verrisse heute - rund 50 Jahre später - noch nachzuvollziehen. Denn Neil Diamond ist mittlerweile eine Ikone. Seine Heiligsprechung erfolgte 2005 durch den Produzenten Rick Rubin. Wie schon bei Johnny Cashs »American Recordings« verfuhr Rubin nach der Devise »Weniger ist mehr«. Für die Alben »12 Songs« und »Home Before Dark« dampfte er Diamonds Soft-/Pop-/Country-Rock aufs Wesentliche ein: Stimme und Akustikgitarre. Damals wie heute wirken der samtig angeraute Bariton und das entspannte Saitenspiel niemals aufdringlich oder gar störend.
Doch vielleicht liegt genau darin der Grund, warum Neil Diamond in seiner Blütezeit, den 70ern, die Anerkennung der Kritiker versagt blieb. Rockmusiker hatten damals den Anspruch zu stören. Sie wollten Grenzen überschreiten. Ob Prog oder Punk, Glam- oder Politrock, stets ging es darum, den engen Rahmen, den die Gesellschaft vorgab, zu sprengen. Selbst Folkrock setzte sich, zumindest textlich, vom kulturellen Mikrokosmos der Vorstadt- und Reihenhausbewohner ab. Neil Diamond aber stand nie der Sinn danach, sich abzugrenzen. Der Sohn jüdischer Einwanderer aus Osteuropa wollte dazugehören. Er wollte die Armut und Einsamkeit, die er während seiner Kindheit in Brooklyn erfahren hatte, hinter sich lassen.
Im Alter von 16 Jahren hat er auf einem Sommercamp sein Erweckungserlebnis. Ein Auftritt des linken Folksängers Pete Seeger verändert alles. Diamond ist perplex, was dessen Lieder bei seinen Altersgenossen auslösen. Noch mehr aber staunt er darüber, dass manche Jugendliche sich nicht aufs Zuhören beschränken, sondern eigene Lieder vortragen. Plötzlich tut sich für ihn, den Eigenbrötler, ein Weg ins Leben auf. Zurück aus dem Camp fängt er an, Gitarre zu lernen und Songs zu schreiben. Zunächst für andere - mit »I’m a Believer« für die Monkees gelingt ihm 1966 ein weltweiter Nummer-1-Hit -, dann auch für sich. In seinem ersten Charterfolg betitelt er sich als »Solitary Man«, als Eigenbrötler. Da ist er 25.
Es soll sein Lebensthema bleiben, selbst nachdem der Erfolg über ihn hereingebrochen ist. In »I Am… I Said« (1971) heißt es: »Habt ihr je von einem Frosch gelesen, der davon träumte, König zu sein? Und dann wurde er einer. (…) Das ist auch meine Geschichte, doch ich habe eine tiefe Leere in mir.« Und in »Longfellow Serenade« (1974), einem weiteren Hit, singt er: »Ich war ein Träumer, der nur Worte anzubieten hatte. (…) Auf meine Art liebte ich sie wie niemand zuvor, liebte sie mit Worten und mehr. Denn sie war einsam, und ich war einsam.«
An dieser Stelle ist es ratsam, sich auf Youtube seinen Auftritt in der »Starparade« aus dem Jahr 1974 anzuschauen. Denn der Mann, der diese Worte äußert, ist eben kein zerquälter, zergrübelter Einzelgänger vom Schlage eines Tim Buckley oder Nick Drake. Vielmehr strahlt Neil Diamond eine Souveränität und Selbstsicherheit aus, die nicht vermuten lässt, dass er in seiner Jugend von Schüchternheit und Zweifeln geplagt war.
Auch hat seine Stimme nichts Leidendes, nichts Weinerliches. In ihr drückt sich keine »tiefe Leere« aus, sondern eine kraftvolle Sehnsucht, die darauf wartet, gestillt zu werden. Auf dem Papier mögen seine Worte bedrückt und niedergeschlagen wirken, doch in gesungener Form künden sie von Hoffnung und Zuversicht.
Damit traf Neil Diamond den Nerv jener Menschen, die in einer radikal veränderten, fiebrig und fahrig gewordenen Welt das Vertraute suchten. Die nicht vom großen gesellschaftlichen Wandel träumten, sondern vom Glück im Kleinen, im Privaten. Diese Menschen wünschten sich nicht unbedingt den Mief der 50er Jahre zurück, aber deren naiven Optimismus und Zukunftsglauben.
In den 70ern hielten Rockkritiker, die sich per se als progressive Vorhut der Gesellschaft verstanden, solche Musik für »reaktionär«, für »gestrig«. Heute aber, im Angesicht von Corona und Klimawandel, spendet seine Stimme Trost und macht Mut. Und das ist in diesen trübsinnigen Zeiten, in denen sich manche der Verzweiflung und andere dem Fatalismus hingeben, ja nicht das Schlechteste. Happy Birthday, Neil!
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