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Aus der Perspektive der Opfer

Die 42. Ausgabe des Filmfestivals Max-Ophüls-Preis fand digital statt

  • Nicolai Hagedorn
  • Lesedauer: 6 Min.

Das 42. Max-Ophüls-Filmfestival fand komplett online statt und ging am Sonntagabend zu Ende. Das Filmfest, das seine Filme normalerweise in Saarbrücker Kinos zeigt und zu den Highlights des Saarbrücker Veranstaltungsjahres zählt, beschreibt sich selbst als »das wichtigste Festival für den jungen deutschsprachigen Film« und präsentierte in der dritten Januarwoche insgesamt 98 Filme. In den Wettbewerbskategorien Kurzfilm, mittellanger Film, Dokumentarfilm und Spielfilm wurden insgesamt 16 Preise vergeben, zwölf Jury- und vier Publikumspreise. Statt der üblichen Abschlussgala wurde die Preisverleihung online live übertragen, die Filmemacher waren per Zoom zugeschaltet und konnten ihre Preise so zumindest annehmen und kommentieren.

Besonders häufig durften das die Macher der Filme »Borga«, der in insgesamt vier Kategorien ausgezeichnet wurde, vor allem mit beiden Bester-Spielfilm-Preisen (Jury und Publikum) sowie »Fuchs im Bau«, der unter anderem die Preise für die beste Regie und den Preis der Jugendjury erhielt. Als beste Nachwuchsschauspieler wurden Jonas Holdenrieder für seine Darstellung des undurchsichtigen Teenagers Paul in »Trübe Wolken« und die in »Nico« tatsächlich groß aufspielende Sara Fazilat ausgezeichnet.

Die 34-jährige Fazilat, die einem größeren Fernsehpublikum als Meral Tosun aus der ARD-Serie »Einfach Rosa« bekannt sein dürfte, legt als lebenslustige deutsch-persische Altenpflegerin Nico eine furiose Ein-Frau-Show hin. Sie wird zu Beginn des auch sonst großartig gespielten Films Opfer eines brutalen gewaltsamen Übergriffs, der sie danach stark belastet. Sie entscheidet sich, Karate zu lernen, und findet in einem unerbittlichen Karatetrainer einen Mentor, während die Beziehungen zu anderen privaten Bezugspersonen, insbesondere der besten Freundin Rosa (Javeh Asefdjah) neu geordnet werden müssen.

Der Film zeigt bei einigen Schwächen - vor allem die Figur des Karatetrainers ist arg klischeehaft geraten - erschreckend präzise, wie schwierig es für die Opfer von Gewalt ist, mit einem solchen Erlebnis umzugehen. Ein sehr kurzweiliger und ernster Film, der es schafft, sein Thema nicht in Trübseligkeiten untergehen zu lassen, sondern - für eine deutsche Produktion wirklich bemerkenswert - sich der Sache mit Humor und Spielfreude anzunehmen. Ein starkes Regiedebüt in jedem Fall - »Nico« ist der Studienabschlussfilm von Eline Gehring an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin.

Ähnliches gilt für »Fuchs im Bau«, der die Geschichte des Gefängnislehrers Hannes Fuchs erzählt. Dieser soll eine ältere Kollegin in einem Jugendknast ablösen, wird während der Einarbeitungsphase aber zunächst weder von der Kollegin noch den »Kindern« akzeptiert. Besonders die erste Hälfte des Films ist tatsächlich eine großartige Regieleistung. Regisseur Arman T. Riahi findet einen Zugang zu seinen vielen Nebenfiguren, ihm gelingt das Kunststück, die jungen Darsteller in wenigen Einstellungen zu konsistenten Figuren zu machen, die den Fortgang der Geschichte plausibel wirken lassen. Im zweiten Teil verrennt sich das Drehbuch zwar in manche Albernheit (unter anderem wird eine Tür aus der Wand eines Wohnhauses gehämmert und ins Gefängnis mitgenommen), die aber durch die sehr schön von dem Film gutgeheißene Widerständigkeit gegen den autoritären Knast-Repressionsapparat mindestens aufgewogen werden.

Der zum besten Spielfilm gekürte »Borga« von York-Fabian Raabe (Langfilm-Regiedebüt) indes zeigt die Geschichte eines ghanaischen Jungen, der es unbedingt im Leben zu etwas bringen will. Borga nennt man in Ghana Landsleute, die im Ausland reüssieren und als gemachte Männer zurückkehren - der kleine Kojo hat genau das vor. Als Jugendlicher gelingt ihm schließlich die Flucht nach Deutschland, wo er in Mannheim zunächst als Obdachloser lebt, später in illegale Geschäfte verwickelt wird, als vermeintlicher Borga in sein Heimatdorf zurückkehrt und damit nicht nur sich selbst in Gefahr bringt. »Borga« ist ein außergewöhnlicher, wild-optimistischer Film. Er erzählt die Flüchtlingsgeschichte stringent aus einer schwarzen Perspektive, hat mit Eugene Boateng einen beeindruckenden Hauptdarsteller und dürfte im Kino gute Aussichten haben, zum Indie-Hit zu werden. Erzählerisch ist er an vielen Ecken nicht ganz ausgereift, teilweise wird auch arg dick aufgetragen, aber »Borga« ist ein durchaus sympathischer, starker Film und die Begeisterung, die er bei den Preisverleihern offenbar ausgelöst hat, ist nachvollziehbar.

Etwas weniger verständlich hingegen die Auszeichnung des Dokumentarfilms »Stollen«, der sich hauptsächlich mit den Einwohnern des Erzgebirgsdorfes Pöhla beschäftigt, die einen alten Bergbaustollen zur Touristenattraktion umgebaut haben und ansonsten vor allem mit Religionsgedöns, Traditionspflege und, ziemlich unappetitlich, heftiger Deutschtümelei beschäftigt sind. Regisseurin Laura Reichwald macht es sich nicht einfach, versucht Motivationen der Einwohner herauszustellen - ihr gelingt ein differenziertes Bild der Lage. Es geht ihr offensichtlich um eine faire Auseinandersetzung mit diesem Milieu und seiner Rückwärtsgewandtheit. Mit ihrem grundsätzlich wohlwollenden Blick gerät Reichwald aber manchmal gefährlich nahe an eine Affirmation deutschnationaler Einstellungen, und das in einer Region, in der die AfD bei der vergangenen Landtagswahl stärkste Partei wurde.

Dabei liefen mit »Dear Future Children« und »The Case You« im Wettbewerb zwei wirklich fesselnde Dokumentarfilme. »The Case You« erzählt den Verlauf eines Castings, bei dem es zu heftigen sexuellen und gewalttätigen Übergriffen auf zum Teil minderjährige Frauen gekommen ist. Der Film lässt einige der Betroffenen die Situation nachstellen und beschreiben und erzählt so die unglaubliche Geschichte virtuos und eindringlich ausschließlich aus der Perspektive der Opfer.

Der wohl bemerkenswerteste Dokumentarfilm des Festivals, »Dear Future Children«, rückt indes weltweite Klassenkämpfe ins Zentrum seiner Beobachtungen und erhielt den Publikumspreis. Der erst 20-jährige Regisseur Franz Böhm begleitet in seinem Langfilmdebüt drei junge politische Aktivistinnen bei ihren sozialen Kämpfen. Rayen kämpft in Chile für den Sozialismus und die Arbeiterklasse, Hilda in Uganda gegen den Klimawandel und Pepper in Hongkong gegen den Verlust demokratischer Rechte und den chinesischen Repressionsapparat. Böhm ist dabei ein spektakulärer Blick auf ein außer Rand und Band geratenes Racket namens Polizei gelungen, das in der ganzen Welt im Auftrag des Kapitals und des ideellen Gesamtkapitalisten Krieg gegen die aufbegehrende Jugend führt, in Chile Hunderten Demonstranten und Demonstrantinnen Augen aus dem Kopf schießt, in Hongkong Massendemonstrationen brutal angreift, jeweils auch mit Todesopfern. Gleichzeitig zeigt Böhm die Auswirkungen des Klimawandels in Afrika und die Kämpfe vor Ort. Der Film ist eine wütende, laute, oft verzweifelte, manchmal etwas zu reißerische, aber auch zuversichtliche Kampfansage einer offenbar gut vernetzten, solidarischen jungen Generation an die gewalttätigen und zerstörerischen Zustände des Spätkapitalismus.

Das Max-Ophüls-Festival hat diesen und vielen weiteren interessanten Filmen ein Forum geboten, man möchte den Festivalmachern auch in Zukunft eine so gute Filmauswahl wünschen und vor allem, dass es bei der nächsten Ausgabe wieder möglich ist, das Programm in den Kinos zu zeigen.

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